Um die Figur Lilith ranken sich viele Legenden. Die Interpretation und Rezeption dieser jüdischen Legende ist so vielseitig, dass sie nicht nur in unserer aktuellen Ausstellung „Rache: Geschichte und Fantasie“ zu entdecken ist, sondern bereits in der ersten Wechselausstellung „Die weibliche Seite Gottes“ nach unserer Wiedereröffnung zu finden war.
Im Begleitkatalog zu „Die weibliche Seite Gottes“ zeigt unsere stellvertretende Direktorin Eva Atlan auf, wie es zur Legendenbildung rund um Lilith kam. Im ersten Buch Moses (1:27) wird der erste biblische Schöpfungsbericht beschrieben: „Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.“ Etwas später im Buch finden wir ein weiteres Mal einen Schöpfungsakt, in dem geschrieben steht (2:22): „Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.“ Diese beiden Textstellen führten in der jüdischen Auslegung des biblischen Texts und insbesondere im mittelalterlichen "Alphabet des Ben Sira" zu reichlich Spekulationen. Adam soll eine erste Frau gehabt haben, Lilith, die wie er aus Erde geschaffen wurde. Sie widersetzte sich ihm jedoch, floh aus dem Garten Eden und Gott schuf eine zweite Frau aus Adams Rippe, Eva. Während wir in unserer ersten Wechselausstellung den Fokus auf die bildlichen Darstellungen von Eva und der „Schlangenfrau“ Lilith legten, lenkt unsere derzeitige Ausstellung den Blick auf die vielseitige Rezeptionsgeschichte von Lilith, die sich von einer rächenden Dämonin zur Ikone der Zweiten Frauenbewegung emanzipierte.
Zum Schutz vor der Dämonin Lilith
Ein Highlight in dem Ausstellungsbereich zu Lilith ist eine künstlerische Auftragsarbeit der israelischen Performerin, Sängerin und Klangkünstlerin Victoria Hanna, die eigens für „Rache: Geschichte und Fantasie“ produziert wurde. Der liegt Arbeit ein gerahmtes Amulett aus unserer Sammlung zugrunde. Dieses Amulett dient dem Schutz des frisch geborenen Kindes und seiner Mutter. Mit Psalmen und rabbinischen Formeln soll die Dämonin Lilith abgewehrt werden. Wie kam es jedoch zur Vorstellung von Liliths als eine rächende Dämonin?
Antworten hierzu finden wir in dem mittelalterlichen Text des "Alphabets von Ben Sira". Hier wird erzählt, wie Lilith, die erste Frau Adams, schwört, ihm und seiner neuen Frau Eva sowie allen Nachgeborenen Schaden zuzufügen. Damit wollte Lilith sich für ihre Vertreibung aus dem Garten Eden rächen. Aus diesem floh sie, da sie sich weigerte, sich Adam zu unterwerfen. Lilith verstand sich als ebenbürtig. Die Furcht vor der Rache Liliths hat sich kulturhistorisch in unterschiedlichen Bildquellen manifestiert, die in der Spätantike im Vorderen und Mittleren Orient und ab dem Mittelalter auch in Ashkenas entstanden: So beispielsweise zwei aramäische Zauberschalen, die wir für unsere Ausstellung aus der Hilprecht-Sammlung der Friedrich-Schiller-Universität in Jena ausleihen konnten. Manche dieser Zauberschalen weisen Inschriften und teilweise sogar figurenähnliche Darstellungen auf, die weibliche Dämoninnen zeigen. In manchen Fällen wird sogar Lilith benannt. Die beiden Schalen, die wir ausstellen, stammen aus dem heutigen Südirak und wurden ca. zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert gefertigt. Solche Schalen wurden meist mit der Öffnung nach unten unter der Türschwelle eines Hauses vergraben, um so Dämonen daran zu hindern, in dieses einzutreten.
Tasuru
In unserer Museumssammlung befindet sich ein Amulett für Wöchnerinnen zur Abwehr von Lilith. Dieses Amulett ist ein verbreitetes Motiv, versehen mit Psalmen und rabbinischen Formeln, die vor Lilith schützen sollen. Viele dieser Amulette weisen eine kleine Lücke in der rechten oberen Textpassage auf, um dort handschriftlich den Namen der Frau einzutragen, deren Kinder und Haushalt vor Lilith geschützt werden sollen. Die Auseinandersetzung mit Lilith und Amuletten zur Abwehr von ihr ist ein zentrales Thema der israelischen Künstlerin Victoria Hanna. So kam es zu der Idee, das Amulett aus unserer Sammlung von ihr vertonen zu lassen. Entstanden ist die Arbeit Tasuru תסורו.
Durch die künstlerische Auftragsarbeit von Victoria Hanna erhält das Amulett seinen ganz individuellen Klang. Viele verschiedene Stimmen hat die israelische Künstlerin in der Auseinandersetzung mit dem Amulett gefunden. Begleitet wird ihre Stimme von einer Lichtinszenierung, die das Amulett sukzessive zusammensetzt. Gemeinsam ergeben sie ein mysteriöses Ensemble und interpretieren das Amulett auf eine neue Weise. In unserer Ausstellung kann man in einer Kabine für sich alleine in die Soundarbeit eintauchen. Eindrücke von dem, was Sie in unserer Ausstellung erwartet, möchte wir Ihnen hier in einer Webversion der Arbeit vermitteln. Wie Victoria Hanna auf den Titel Tasuru („lass mich in Ruhe“ / „weiche“ / „verschwinde“) kam und was die Auseinandersetzung mit dem Amulett für sie bedeutete, beschreibt sie so:
Victoria HannaVor einigen Jahren, kurz vor der Geburt meines Kindes bekam ich dieses Amulett von einer engen Freundin geschenkt. Ich legte es neben mein Bett; es war ein angenehmes und interessantes Gefühl, diese Verbindungen aus Buchstaben in meiner Nähe zu wissen, die mir Wohlergehen und Sicherheit wünschten. Als ich dann vor einem Jahr vom Jüdischen Museum in Frankfurt den Auftrag erhielt, eine neue Arbeit für diese Ausstellung anzufertigen, bat ich darum, die Amulettsammlung des Museums sehen zu dürfen und entdeckte darunter das gleiche Amulett – eines, das Kind und Mutter beschützen soll. Diesmal betrachtete ich es aus der Sicht einer Klangkünstlerin; ich war gespannt, was passieren würde, wenn ich ihm Leben einhauchen würde. Tatsächlich erhoben sich plötzlich, wie durch ein Wunder, viele Stimmen aus meinem Inneren.
Lilith-Magazine und Popkultur
Für uns war es wichtig, dass wir mit der Auftragsarbeit die Rezeption Liliths zeitgenössisch kommentieren – gerade dahingehend, dass Victoria Hanna dem Amulett eine dezidiert weibliche Stimme gibt. Denn auf dem Amulett sammeln sich vornehmlich männliche Stimmen. Damit ist unser Blick auf die Rezeption von Lilith in der Ausstellung noch nicht abgeschlossen. Denn nachdem sie lange Zeit als Femme fatale galt, die ihre männlichen Opfer nachts heimsucht, wird sie in den 1960er Jahren zur Ikone der jüdischen Frauenbewegung und als emanzipierte Frau umgedeutet, die sich weigerte, sich der männlichen Herrschaft zu unterwerfen. Das Magazin Lilith: The Jewish Women’s Magazine entsteht wie auch viele Buchläden oder Lesezirkel, die nach ihr benannt werden, im amerikanischen Raum. Eine Ausgabe des Lilith-Magazines, die uns besonders beeindruckte, war #16 aus dem Jahr 1986. Auf dem Cover dieser Ausgabe sieht man Rächerinnen der Gruppe Nakam: Vitka Kempner, Ruzka Korczak und Zelda Trager. Meist drehen sich die Erzählungen der Gruppe Nakam, die nach der Schoa den Plan hegte, sich an sechs Millionen Deutschen zu rächen, um den Dichter, Partisanen und Widerstandskämpfer Abba Kovner – nicht jedoch im Lilith-Magazine!
In der amerikanischen Popkultur feierte Lilith zeitgleich ein Revival als ambivalente Superheldin. So ist sie bspw. im Kosmos der X-Men oder als Vampirin in Vampirella oder Vampire Tales zu finden. In der jüngeren Graphic Novel-Serie "Rachel Rising" wurde die jüdische Legende erneut aufgegriffen. Die Graphic Novel spielt in der fiktiven Stadt Manson. Die Lesenden folgen Rachel bei dem Versuch, ihren eigenen Mörder ausfindig zu machen. Auf der Suche bringt Rachel in Erfahrung, dass sie von Lilith wieder zum Leben erweckt wurde. Lilith möchte Vergeltung an der Kleinstadt in Manson üben, in der vor mehreren hundert Jahren Frauen bei einer Hexenjagd ermordet wurden. Um ihren Plan in die Tat umzusetzen, sucht sie unter anderem in Rachel eine Verbündete.
Die Legende von Lilith erzählt auf sehr unterschiedliche Weise von der Hoffnung auf Emanzipation und Selbstermächtigung. Dabei unterliegt ihre Interpretation immer dem Wandel der Zeit. In Liliths Fall: von einer Dämonin zur Ikone der Frauenbewegung.
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