Interview mit der Künstlerin Talya Feldman, die den Anschlag von Halle 2019 in der dortigen Synagoge überlebte. English version below.
Am 9. Oktober 2019 verübte ein Rechtsextremist einen Anschlag auf eine die Synagoge und einen Dönerladen in Halle (Saale), tötete zwei Menschen und verletzte mehrere andere. Talya Feldman war während des Anschlags in Halle vor einem Jahr in der Synagoge und ist Nebenklägerin im laufenden Prozess gegen den Attentäter. Als Künstlerin hat sie mehrere Werke in Bezug auf das Geschehen in Halle geschaffen, darunter die Videoinstallation "Elegy", in der sie sich mit ihren Erfahrungen und den Erfahrungen vieler anderer Überlebender dieses Tages befasst. In diesem sehr bewegenden Interview schildert sie ihre Gedanken zum Jahrestag des Anschlags.
Der schreckliche Angriff von Halle ist jetzt ein Jahr her. Du warst dort beim Jom-Kippur-Gottesdienst in der Synagoge. Wo hast du Jom Kippur dieses Jahr verbracht?
Kurz nach dem Anschlag in Halle im letzten Jahr schrieb ich einem meiner Rabbiner in den USA. Ich habe versucht – und versuche immer noch – zu verstehen, wie so etwas hatte passieren können, wie ich hatte überleben können, während andere es nicht taten. Jom Kippur lehrt uns, dass unser Leben nicht unser Eigentum ist. Wir werden vielleicht nie verstehen, warum uns bestimmte Dinge passieren – aber wir können uns dafür entscheiden, entweder verbittert und verschlossen zu sein oder den Schmerz gebrochener Herzen zu teilen und uns für eine bessere Zukunft zu öffnen. Freude und Trauer sind real, schrieb mein Rabbi, aber es ist unser Vorrecht, was wir mit ihnen machen.
Diesen Jom Kippur habe ich in Berlin mit denjenigen verbracht, die letztes Jahr mit mir in Halle waren, sowie mit einigen, die es nicht waren. Unsere Herzen waren gebrochen und doch – wir kommen weiterhin zusammen, trauern zusammen, werden zusammen stärker. Ich habe aus meinen Communities in Denver, in Berlin und in Hamburg und von meinen Mitnebenklägern im Prozess, die in der Synagoge, im Kiez-Döner, auf der Straße oder in Wiedersdorf attackiert wurden, so viel Mut und Kraft bekommen. Wir haben überlebt, obwohl wir immer noch nicht wirklich verstehen, warum oder wie, aber wir leben weiter.
Wie nimmst Du den laufenden Gerichtsprozess gegen den Attentäter wahr?
Ich sitze im Gerichtssaal und werde ständig daran erinnert, dass Gesetz nicht unbedingt Gerechtigkeit bedeutet. Wir wissen, was dieser Mann getan hat, seine Motive waren von Anfang an klar. Er wird lebenslang ins Gefängnis gehen. Aber er ist ein Symptom einer rechtsextremistischen, weißen beherrschenden Ideologie, die unsere Gesellschaft schnell durchdringt – nicht nur hier in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Sein Angriff wurde von anderen in Oslo, Christchurch, El Paso und Poway motiviert und beeinflusst. Dieser Prozess ist seine letzte Bühne und er nutzt sie, um andere zu beeinflussen, so wie er beeinflusst wurde. Die Tatsache, dass erst kürzlich in Hamburg ein weiterer Angriff stattgefunden hat, lässt mich befürchten, dass er Erfolg damit hat. Die mangelnden Ermittlungen des BKA, die armselige Reaktion der Strafverfolgungsbehörden während und nach dem Anschlag in Halle, selbst die nachlässigen Fragen und Kommentare von Anwälten und Richtern während dieses Prozesses haben mich zu der Erkenntnis geführt, dass wenn wir diesen Hass bekämpfen und ausmerzen wollen, wir dies als Gesellschaft selbst tun müssen. Und wir müssen unsere politischen und justiziellen Systeme unter Druck setzen, den Hass zu verfolgen, und sie dafür verantwortlich machen, was passiert, wenn sie sich weigern, die offensichtlichen Folgen von Rassismus und Antisemitismus in unserer Welt anzuerkennen. Diese Angriffe betreffen uns alle, und wir als Gemeinschaft, als Gesellschaft, als Land müssen alles in unserer Macht stehende tun, um zu verhindern, dass sie immer wieder auftreten.
Du bist eine Künstlerin. Beschäftigst du dich künstlerisch mit diesen Erfahrungen?
Als Künstlerin und Überlebende befrage ich mich und meine Arbeit ständig: tue ich genug? Wenn Angriffe wie Hanau, wie New Jersey, wie Kenosha und jetzt wie Hamburg stattfinden, kann es sich oft so hoffnungslos anfühlen. Und doch teilen wir diesen Schmerz gebrochener Herzen und leben weiter. Als Künstler haben wir meiner Meinung nach eine Verantwortung und auch eine Plattform, über die wir das ausdrücken können, was nicht in Worten ausgedrückt werden kann. Wir können die Gesellschaft anleiten, zu betrachten, was sie nicht sehen kann oder nicht sehen will. Systeme und Ideologien in Frage zu stellen, aber auch, wenn wir an Halle denken, dies gemeinsam zu teilen.
Im letzten Jahr habe ich meine künstlerische Praxis erweitert, um mit neuen Medien zu experimentieren, aber ich habe auch begonnen, mit Forschungseinrichtungen und Aktivisten, mit anderen Künstlern und anderen Überlebenden zusammenzuarbeiten - Netzwerken und Menschen außerhalb von mir, die für Veränderungen kämpfen. Und dafür bin ich ihnen unglaublich dankbar.
Als Überlebende des Anschlags in Halle verbrachte ich die letzten Monate damit, Interviews und Aussagen von Überlebenden zu sammeln, die sich in verschiedenen Phasen ihrer Verarbeitung und ihrer Heilung von dieser Erfahrung befanden. Indem ich die Sprache der Überlebenden verwandt habe, konstruierte ich ein Gedicht, in dem ich ihre Worte kombinierte, die ich aus über 20 ihrer Aussagen entnahm. Dieses Gedicht wurde dann von Einzelpersonen in Pakistan, den Vereinigten Staaten und Brasilien vorgelesen und aufgenommen. Die aufgenommenen Stimmen gehören Menschen, die Diskriminierung in den verschiedensten Formen erfahren haben, als Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, als Schwarze, als Muslime, als Juden. Die Gewalt, die in Halle zu Tage trat und die daraus resultierende Trauer und der Schmerz, den die Überlebenden durchlebt haben, sind weitreichend. Hass und Terror kennen keine Grenzen, und die Angriffe von Extremisten auf der ganzen Welt betreffen uns alle. Die aufgenommenen Stimmen habe ich dann im Rahmen einer größeren Aufführung mit darunter liegenden Synthesizer-Tönen zu einem Klangstück gemischt. Sogar bei den zwei kombinierten Aussagen von Überlebenden gibt es einen Schmerz, der nur ohne Worte zu spüren ist. Wie Hass und Terror erstreckt sich die Trauer, die die Körper der Opfer umgibt, über die Grenzen hinaus.
Seit August 2020 arbeite ich mit der Tänzerin und Choreographin Tirza Ben Zvi zusammen, die vor kurzem ihren Abschluss an der Hochschule für Zeitgenössischen Tanz in Hamburg gemacht hat. Ben Zvi, maskiert in Anonymität, wirkt in dem Projekt als Darstellung aller Betroffenen und aller, die es noch werden – der Überlebenden des Anschlags in Halle und der aufgezeichneten Rezitationen derjenigen, die regelmäßig Diskriminierung erfahren. Durch Bewegung versucht dieses Projekt, ihre Stimmen über die Sprachbarrieren hinaus zu erweitern. Durch sorgfältig artikulierte Gesten vertieft Ben Zvi das Trauma und die Trauer, die in dem Gedicht beschrieben werden, und dehnt sie über die Worte hinaus aus, um Bevölkerungen und Gemeinschaften miteinander zu verbinden.
Das Interview führte Sara Soussan.
"ELEGY" – The first anniversary of the Halle attack
Interview with the artist Talya Feldman who survived the attack on a synagogue in Halle.
On October 9, 2019, a right-wing extremist targeted a local synagogue and a kebab shop in Halle (Saale), killing two people and injuring several others. Talya Feldman was in the synagogue in Halle during the attack, and is a co-plaintiff in the ongoing trial against the assassin. As an artist, she has created several works in relation to what happened in Halle, including a recent video installation “Elegy”, in which she addresses her experience and the experiences of many other survivors from that day. Talya Feldman describes her thoughts on the anniversary of the attack in this very moving interview.
The terrible attack of Halle was now a year ago, and you were there at the Yom Kippur service in the synagogue. Where did you spend Yom Kippur this year?
Shortly after the attack in Halle last year, I remember writing to a Rabbi of mine in the US. I was trying to — I am still trying to — understand how something like this could have happened, how I could have survived while others did not. Yom Kippur teaches us that our lives are not our own. We may never understand why certain things happen to us — but we can choose to either be bitter and closed because of them, or to share the pain of broken hearts and open ourselves towards a better future. Joy and sorrow are real, my Rabbi wrote, but what we do with them is our prerogative.
This Yom Kippur I spent in Berlin, and I shared it with others who were there in Halle last year, as well as those who were not. Our hearts were broken, and yet — we continue to come together, to grieve together, to become stronger together. I have taken so much courage and so much strength from my communities in Denver, in Base Berlin, and in Hamburg — and from my fellow co-plaintiffs — those who were targeted in the synagogue, in the Kiez-Döner, on the street, or in Wiedersdorf. We survived, and while we still don’t understand why or how, we continue to live.
How do you perceive the ongoing legal process?
Sitting in the courtroom, I am constantly reminded that the law is not justice. We know what this man did, his motives have been clear from the beginning. He will go to prison for life. But he is a symptom of a right-wing extremist, white supremacist ideology that is rapidly permeating our society — not just here in Germany, but in the world. His attack was motivated and influenced by others in Oslo, Christchurch, El Paso, and Poway. This trial is his last stage, and he is using it to inspire others, just like he was inspired. And the fact that another attack happened, only just recently in Hamburg, leads me to believe that he is succeeding. The lack of investigation by the BKA, the poor response of law enforcement during and after the attack in Halle, even the careless questions and comments of lawyers and judges through this trial — have led me to understand that if we are to fight and eradicate this hate, then we as a society must do so ourselves. And we must pressure our political and justice systems to follow, holding them accountable for what happens when they refuse to recognize the evident consequences of racism and anti-Semitism in our world. These attacks affect all of us, and we, as a community, as a society, as a country — must do whatever is in our power to stop them from happening over and over again.
You are an artist. Do you deal artistically with your experiences?
As an artist and a survivor, I am constantly asking of myself and of my work: am I doing enough? When attacks like Hanau happen, like New Jersey, like Kenosha, and now like Hamburg — it can often feel so hopeless. And yet, we share this pain of broken hearts and we continue living. As artists I believe we have a responsibility and a platform through which we can express that which cannot be expressed in words. We can guide society to look at what they cannot or refuse to see — to question systems and ideologies but also — in thinking of Halle, to share this pain.
In the last year I have opened my practice to experiment with new media, but I have also begun collaborating with research institutions and activists, with other artists and other survivors — networks and people outside of myself who are fighting for change. And for that and to them I am incredibly grateful.
In October 9th, 2019 a white supremacist targeted a local synagogue and kebab shop in Halle, Germany killing two people and injuring many. As a survivor of this attack in Halle, I spent the last several months collecting the interviews and statements of fellow survivors, at various moments in their processing and their healing from this event. Using this found language, I composed a poem combining their words, sourced from over 20 of their testimonies. This poem was then read and recorded by individuals in Pakistan, the United States, and Brazil. The recorded voices belong to people who have experienced discrimination in a variety of forms, as BIPOC, as Muslims, as Jews. The violence that was witnessed in Halle and the resultant grief and pain that lives through its survivors is far-reaching. Hate and terror have no borders, and these attacks by extremists around the world impact all of us. These voices I then mixed with underlying synth tones into a sound piece as part of a much larger performance. Even with the combined statements of survivors, there is a pain that can only be felt without words. Like hate and terror, the grief encompassing the bodies of its victims extends beyond borders.
In August 2020, I began working with dancer and choreographer Tirza Ben Zvi, a recent graduate of the Contemporary Dance School Hamburg. Ben Zvi, masked in anonymity, is a representation of all those affected, and all who will be -- the survivors from the attack in Halle and the recorded recitations of those who experience discrimination on a regular basis. Through movement, this project seeks to extend their voices beyond the barriers of language. Through carefully articulated gestures, Ben Zvi is delving deeply into the trauma and grief described in the poem, and extending them beyond words as a means of connecting societies and communities.
The interview was conducted by Sara Soussan.
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