Von Będzin nach Frankfurt
Arno Lustiger wuchs in Będzin auf, einer Kleinstadt im polnischen Oberschlesien mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit. Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im September 1939 begann auch hier die systematische Verfolgung, die 1943 in der Deportation aller noch ansässigen Juden mündete. Arno Lustiger überlebte, im Gegensatz zu seinem Vater und Bruder, die Haft in mehreren Konzentrationslagern. Auf einem Todesmarsch im April 1945 gelang ihm die Flucht. Eine amerikanische Panzereinheit nahm ihn als Übersetzer auf. Die überlebenden Familienmitglieder – Lustiger, seine Mutter und seine drei Schwestern – fanden nach Kriegsende wieder zusammen, in einem Lager für sogenannte Displaced Persons in Zeilsheim bei Frankfurt. Arno suchte aktiv Mutter und Schwestern und brachte sie auf abenteuerliche Weise aus der von den sowjetischen Streitkräften besetzten Zone in den Westen.
Die anfangs geplante Auswanderung nach Israel oder in die USA kam für seine gesundheitlich angeschlagene Mutter und Schwester Hella nicht in Betracht. So wurde Arno Lustiger in Frankfurt sesshaft. Hier baute er sich als Modefabrikant eine Existenz auf, war Mitbegründer der Jüdischen Gemeinde und lange Jahre Vorsitzender der Zionistischen Organisation in Deutschland (ZOD). Doch sollten vier Jahrzehnte vergehen, bis er die eigenen traumatischen Erfahrungen des Holocaust schriftlich aufarbeiten konnte.
Arno Lustiger in der Jüdischen Allgemeinen, 25.04.1999Jedes Mal wenn ich den Zorn kriege, schreibe ich ein Buch.
Chronist des Widerstands
Eine Zufallsbegegnung auf einer Flugreise ließ Arno Lustigers Entschluss reifen, die vergessene Geschichte der 6.000 jüdischen Freiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg historisch aufzuarbeiten. "Schalom Libertad!", 1989 veröffentlicht, wurde zum Ausgangspunkt seiner Karriere als Publizist. Die Darstellung der vergessenen oder verdrängten Aspekte der jüdischen Geschichte wurde ihm zur Herzensangelegenheit. Es folgten historische Werke über den jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Verfolgungen unter Stalin. Dank Lustigers unermüdlicher Arbeit als Autor und Zeitzeuge konnte die vorherrschende Lehrmeinung von der fatalen Passivität der europäischen Juden widerlegt werden. Er erhielt dafür zahlreiche Auszeichnungen bis hin zum dreifachen Bundesverdienstkreuz. Zu später akademischer Würdigung gelangte Lustiger mit der Ehrendoktorwürde der Universität Potsdam 2003 und der Ehrenprofessur des Landes Hessen 2007.
Der Nachlass Lustiger im Jüdischen Museum
2017 hat das Museum den wissenschaftlichen und persönlichen Nachlass Arno Lustigers von dessen Tochter Gila als Dauerleihgabe erhalten. Nach mehrmonatiger Erschließungsarbeit ist er seit Anfang 2018 im Museumsarchiv zugänglich. Zahllose Dokumente, Manuskripte und andere Quellen (insgesamt 14 Regalmeter) legen Zeugnis ab von jahrzehntelanger Forschungsarbeit. Umfangreiche Korrespondenzen mit Amts- und Würdenträgern wie etwa mehreren Bundespräsidenten unterstreichen die enorme Bedeutung, die Lustigers Arbeit von offizieller Seite beigemessen wurde.
aus Gila Lustiger, So sind wir. Ein Familienroman, S. 250, Taschenbuch S. 250Nie ist mein Vater ein Über-Lebender gewesen. Denn selbst in Auschwitz, Buchenwald und Langenstein hat er nie aufgehört zu leben, zu leiden, zu atmen und zu hoffen. Ein Lebender, kein Arbeitstier, kein Unter-Mensch, kein Organismus, den man in seine Organe, Gewebe, Zellen hätte zerlegen können. Nicht auf etwas so Irrelevantes reduzierbar wie Leistung, Plagen, Brotrationen und Durchhaltevermögen. Nie ist mein Vater ein Überlebender gewesen. Immer nur das: sich zwischen parkenden Autos hindurchschlängelnd – ein Lebender. Vor einem reich garnierten Bücherregal glücklich seufzend.
Aber auch seine Unternehmertätigkeit in der Textilbranche, die unermüdliche Arbeit für die Zionistische Organisation (ZOD) in Deutschland und die Jüdische Gemeinde Frankfurt sind gut dokumentiert. Auch über den Privatmann Arno Lustiger erfährt man einiges, beispielsweisen aus Briefen der Familie aus der Nachkriegszeit – geschrieben auf Polnisch. In ihrer Gesamtheit bilden die vorhandenen Bestände eine fast lückenlose Darstellung des Lebens und Wirkens Lustigers und eine wertvolle Ressource für künftige Forschungsarbeit.
Literatur
Arno Lustiger als Autor:
- "Schalom Libertad!" Juden im Spanischen Bürgerkrieg. Athenäum, Frankfurt am Main 1989.
- Zum Kampf auf Leben und Tod. Das Buch vom Widerstand der Juden 1933–1945. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994.
- Jüdische Kultur in Ostmitteleuropa am Beispiel Polens. Bonn 2000.
- Rotbuch: Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden. Berlin 2000.
- „Wir werden nicht untergehen“: Zur jüdischen Geschichte. München 2002.
- Sing mit Schmerz und Zorn. Ein Leben für den Widerstand. Berlin 2004.
- Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa währen der NS-Zeit. Göttingen 2011.
Arno Lustiger als Herausgeber:
- Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Hamburg 1994.
- Jüdische Stiftungen in Frankfurt a.M. Frankfurt am Main 1988.
Arno Lustiger im Interview:
- B. Kerski, J. Skibinska (Hrsg.): Ein jüdisches Leben im Zeitalter der Extreme. Gespräche mit Arno Lustiger. Osnabrück 2004.
- „Das wird dir niemand glauben.“ In: Martin Doerry (Hrsg.): Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. München 2006, S. 142–151.
- Arno Lustiger erzählt aus seinem Leben: „Ich habe mein ganzes Leben Glück gehabt.“ In der Edition Zeugen einer Zeit. Aktives Museum Spiegelgasse für Deutsch-Jüdische Geschichte e. V., Wiesbaden 2008 (Audio-CD).