Die Idee zur Ausstellung
Im Frühjahr 2007 war Raphael Gross als Direktor des Jüdischen Museums neu in Frankfurt. Ich war damals bereits „alteingesessen“, denn seit 2004 hatte ich eine Projektstelle am MPI für Rechtsgeschichte. Dort traf ich den neuen Chef des Hauses, der sich museologisch mit politischer und Ideengeschichte des Judentums nach 1945 befassen wollte. Er fragte, ob ich mir vorstellen könnte, eine Ausstellung über die russisch-jüdische Einwanderung zu kuratieren. Die Idee kam mir interessant vor und ich sagte: „ja“.
Der Vorschlag, mich bei diesem Projekt zu fragen, kam von Georg Heuberger, dem Gründungsdirektor des Hauses. Danach stand für mich zunächst ein akademisches Jahr in Amerika an. In New York traf ich mich mit Boris Groys, dem russisch-deutsch-amerikanischen Kulturphilosophen und Kurator. Wir sprachen über die Ausstellung und Groys prophezeite: „Kaufen Sie sich gleich nach der Rückkehr ein TV Gerät mit einem russischen Programm, denn Sie werden bis Ende Ihrer Tage vor allem hierzu gefragt“. Irgendwo in einem Café zwischen Sommerwille und Cambridge entstand auch der Titel der Ausstellung: „Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik“. Mir war damals nach einem gekränkten Schreien: „Schaut her, Ihr Ignoranten, was für ein Schatz aus der Sowjetunion zu Euch/uns nach Deutschland gekommen ist!“
220.000 Kontingentflüchtlinge
Ich bin noch heute Raphael Gross, Fritz Backhaus, Anne Gemeinhardt, sowie den Kolleginnen und Kollegen aus der Ausstellungsmannschaft, zu Dank verpflichtet, dass wir aus dieser primär emotionalen Motivation eine europäisch-jüdische Geschichte gemacht haben. Nach dem Zerfall eines Weltreichs (UdSSR) bewegte sich eine große Menschengruppe in Richtung Deutschland. Das Land war nach der Wiedervereinigung selber im Umbruch und die wenigen Jüdinnen und Juden des Landes hatten ihre Koffer ausgepackt. Oder sie dachten so. Plötzlich standen diese 220.000 sogenannten „Kontingentflüchtlinge“ vor der Tür, mit ihren halachisch-nicht halachischen, jüdisch-christlichen, kommunistisch-atheistischen, belesen-einsprachigen und vor allem fremden Geschichten. Eine neue Ära begann. Eine wichtige – keine einfache. Unsere Aufgabe war, diese zu zeigen.
Erster Impuls für eine andauernde Diskussion
Die Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland!“, wesentlich unterstützt von der Kulturstiftung des Bundes, erbrachte vier bis fünf Jahre vor der Flut der lokalen Museumsprojekte über „unsere Russen“ eine Pionierleistung im Hinblick auf die objektbezogenen Kontextualisierung einer neuen Situation für das Nachkriegsjudentum in Deutschland. Und dass Dan Diner seine inzwischen legendären Worte „mit der Zuwanderung der Juden aus der vormaligen Sowjetunion ist die Geschichte der bundesrepublikanischen Juden an ihr Ende gelangt“ während der Vorbereitungskonferenz zur Ausstellung artikulierte, war genauso folgerichtig, wie die Tatsache, dass ich für meine These über das Entstehen eines „deutschen Judentums 2.0“, als Ergebnis der Emigration der postsowjetischen Juden, medial gelobt wurde – und auch auf die Mütze bekam. Es gebe nach der Schoa kein deutsches Judentum mehr, so die Kritiker.
Seit 2010 hat das Interesse an der Geschichte in der Ausstellungswelt nachgelassen – das ist paradox. Die performativen Projekte zeigen zwar die individualisierten Mythen oder sie glorifizieren zurecht die heutige Vielfalt der Jüdinnen und Juden, besonders in Berlin. Doch die Geschichte - intellektuell, politisch, Alltagsbezogen, unter Berücksichtigung kultureller und religiöser Traditionen erzählt - sollte meines Erachtens in die jüdische Ausstellungswelt zurückgeholt werden.
Dr. Dmitrij Belkin ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Leo Baeck Foundation in Berlin und koordiniert den Jüdischen Zukunftskongress in der Hauptstadt (05-11.11.2018).