Das Jüdische Museum Frankfurt präsentiert vom 18. September an ein künstlerisches Forschungsprojekt zur Geschichte einer außergewöhnlichen Familie, deren Wurzeln 500 Jahre zurück bis in die Zeit der Frankfurter Judengasse reichen. Zwei Jahre lang hat sich die Fotografin und Medienkünstlerin Ruthe Zuntz im Frankfurter Stadtraum und in den Wohnungen ihrer Verwandten auf Spurensuche begeben – etwa nach denen der Bauhaus-Künstlerin Julia Feininger, der ersten promovierten Ärztin Frankfurts, Rosel Zuntz, des Verwalters der Rothschild’schen Stiftung für Arme, Leopold Jehuda Gumpert Zuntz, sowie der Gründerin eines großen Kaffeeröst- und Handelsunternehmens, Rachel Zunz-Hess. Insbesondere ist sie den Erinnerungen ihres Vaters auf den Grund gegangen.
In Haifa geboren, wanderte Ruthe Zuntz 1991 just in das Land aus, aus dem ihr Vater, Simon Zuntz, 1939 als Kind hatte fliehen müssen. Dieser schrieb ihr fortan mehr als 500 Briefe, auf ihr Bitten hin mit immer detailreicheren Erzählungen aus seiner Kindheit in Frankfurt am Main. Sein Tod im Jahr 2021 wird für Ruthe Zuntz zum Ausgangspunkt einer intensiven Beschäftigung mit seiner Geschichte, wie auch der seiner Vorfahren. Sie recherchiert weltweit, reist von Berlin nach Frankfurt und entdeckt – unterstützt vom Jüdischen Museum Frankfurt – immer mehr Geschichten. Ihre Forschungen und Auseinandersetzungen münden in einer multimedialen Installation, die im Zentrum der Ausstellung „What A Family!“ steht.
Die interaktive Installation von Ruthe Zuntz basiert auf Fotografien, Zitaten aus den Briefen ihres Vaters, eigenen Fragen und Klängen, die als räumliche Inszenierung in zwei runden Räumen präsentiert werden, die durch raumhohe Vorhänge umgrenzt sind und die Form des mathematischen Zeichens für Unendlichkeit, der liegenden Acht, haben. Im Außenbereich der Installation widmet sich die Ausstellung den Biografien von 18 Persönlichkeiten, die mit Objekten aus dem Familienbesitz auf verspiegelten Vitrinen, die die Form eines Splitters annehmen, präsentiert werden. Mit ihrer Formensprache greift die Ausstellung den Wunsch der Künstlerin auf, die zersplitterte Familie zusammenzuführen und damit auch die Folgen der Schoa zu heilen. Zwei von Faden-Vorhängen umgebene weiße 3-D-Objekte ergänzen die künstlerische Installation und nehmen eine szenische Abstraktion von zwei Gegenständen vor, die für die Familiengeschichte von einschneidender Bedeutung sind: einem Koffer und einer Sukka (Laubhütte). Beide Objekte verweisen auf die Geschichte des Großvaters der Künstlerin, Karl Zuntz.
Karl Zuntz leitete die Rothschild’sche Stiftung für mittellose jüdische Mädchen und lebte im Haus „Grünes Schild“, dem Stammhaus der Familie Rothschild in der Judengasse. Er war Vater von fünf Kindern. Mit seinen beiden jüngsten Kindern, Miriam und Harry, acht und neun Jahre alt, sowie seiner zweiten Frau, Ella, wurde er am 15. September 1942 von der Frankfurter Großmarkthalle aus in das Durchgangs- und Konzentrationslager Theresienstadt und von dort am 6. Oktober 1944 weiter nach Auschwitz deportiert und ermordet. Das letzte, was von ihm blieb, war ein Koffer mit seinem Namen, der sich heute im Museum Auschwitz-Birkenau befindet. Auf ihn bezieht sich das abstrahierte 3-D-Objekt im ersten Raum der Ausstellung. Die ebenfalls abstrakte Darstellung einer Sukka im zweiten Raum erinnert an die Laubhütte, die Karl Zuntz in Theresienstadt errichtet hatte und die zum Auslöser für seine Deportation wurde. Von seiner Familie überlebten einzig seine Söhne Simon (gestorben 2021, Vater von Ruthe) und Leo Zuntz, die er im April 1939 (im Alter von zehn und sieben Jahren) mit einem Kindertransport der Jugend-Aliyah ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina geschickt hatte. Seine älteste Tochter, Esther, hatte er bereits 1938 in ein jüdisches Waisenhaus nach Amsterdam in Sicherheit bringen wollen. Sie wurde aber über Westerbork nach Sobibor deportiert und dort 1943 ermordet.
Im Prolog (erster Raum) geht die Ausstellung auf die Geschichte von Karl Zuntz (geboren 1897 in Frankfurt) ein und präsentiert drei handgeschriebene Briefe, die er seinen Söhnen nach Palästina schrieb, sowie einen historischen Amateurfilm, in dem er vor dem Haus „Grünes Schild“ zu sehen ist. Der darauffolgende große Ausstellungsraum präsentiert im Zentrum die multimediale Installation von Ruthe Zuntz sowie die Biografien von 18 herausragenden Persönlichkeiten ihrer Familie mit ausgewählten Objekten und einem großen Stammbaum.
Im Epilog (letzter Raum) weist ein historischer Stadtplan auf etwa 40 Wohnorte aller Familienmitglieder hin, die in Frankfurt gelebt haben, ergänzt durch ein eigens gestaltetes Buch, in dem Ruthe Zuntz fotografisch festgehalten hat, wie es heute vor Ort aussieht. In einem Interview-Film gibt die Künstlerin einen Einblick in den künstlerischen wie auch emotionalen Prozess, der die Erforschung ihrer Familiengeschichte begleitete, und reflektiert, wie persönliche und kollektive Geschichten miteinander verwoben sind. Der Raum nimmt abschließend noch einen weiteren Bezug zur Gegenwart vor: Hier treffen Besucherinnen und Besucher auf Bilder der heutigen Familie Zuntz.
Zur Eröffnung werden rund 60 Familienmitglieder aus Israel, den USA und Europa anwesend sein. Erstmalig würdigt das Jüdische Museum mit der Verwendung der hebräischen neben der deutschen und der englischen Sprache die Internationalität der Familie Zuntz.
Biografie Ruthe Zuntz
Die Künstlerin und Fotografin Ruthe Zuntz, geboren 1971 in Haifa, lebt seit 1991 in Berlin. Dort studierte sie Mediendesign an der Universität der Künste Berlin. Ein Studienaufenthalt führte sie 1996 nach New York, wo sie die Fotografie für sich entdeckte. 1999 begründete sie „Walkscreen“, eine Plattform für interaktive Installationen, in denen sie ihre fotografischen Erkundungen der Großstadt fortan präsentierte. Auf Einladung der Asia Europe Foundation (ASEF) realisierte sie unter anderem „Point to Point“ (Tokio 2005), „I'm Pulse“ (Peking 2006) und „Borderless Me“ (Helsinki 2006). Im Jahr 2007 rief Zuntz das Kunst- und Friedensprojekt „Challenging Walls“ ins Leben.
Ruthe Zuntz entwickelt seit Jahren auch themen- und ortsbezogene Workshops für angehende Fotografinnen und Fotografen, wie unter anderem für das Marina Bay Sands‘ Art Science Museum (Singapur) und das Shenkar College (Tel Aviv). Sie ist Dozentin an der Schule für Bildende Kunst und Gestaltung, Berlin. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Begleitprogramm
Das umfangreiche Begleitprogramm zur Ausstellung ist auf der Ausstellungs-Website zu finden.
Ausstellung und Begleitprogramm konnten dank großzügiger Förderung des Kulturfonds Frankfurt RheinMain, der Berthold Leibinger Stiftung, der Schleicher Stiftung und der Ernst Max von Grunelius-Stiftung realisiert werden.
Pressematerial zum Download
- Factsheet zur Ausstellung (Download PDF)
- Auswahl an Biografien der Familie Zuntz (Download PDF)
- Ruthe Zuntz mit ihrem Vater Simon Zuntz © Ruthe Zuntz (Download JPG)
- Die 5 Geschwister. Von links: Esther, Mirjam, Leo, Harry und Simon Zuntz © Familie Zuntz (Download JPG)
- Brief von Karl Zuntz an seine Söhne, 29.06.1939 © Ruthe Zuntz (Download JPG)
- Blick in die Ausstellung © Jüdisches Museum Frankfurt, Foto Norbert Miguletz (Download JPG)
- 3-D-Installation des Koffers © Jüdisches Museum Frankfurt, Foto Norbert Miguletz (Download JPG)
- Medieninstallation von Ruthe Zuntz, Liebesbrief ihrer Großeltern © Jüdisches Museum Frankfurt, Foto Norbert Miguletz (Download JPG)
- Ruthe Zuntz vor ihrer Medieninstalltation, Briefe ihres Vaters © Jüdisches Museum Frankfurt, Foto Norbert Miguletz (Download JPG)
- Aladdin von Julia Feininger © Jüdisches Museum Frankfurt, Foto Norbert Miguletz (Download JPG)
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