Das Corona-Virus hält die Welt weiter in Atem. Vor dem Hintergrund dieser Pandemie fragen wir: Was finden wir zu zum Thema Seuchen, aber auch zu Medizin in jüdischen Quellen und in der jüdischen Geschichte Europas?
Ein Blick in Tanach und Talmud
Im 2. Buch Moses 21,19 wird geboten: Wer einem anderen eine Verletzung zufügt, muss dessen ärztliche Behandlung gewährleisten. Der Täter soll für die vollständige Genesung des Verletzten sorgen: "…und du musst ihn heilen lassen." Dieses Tora-Gesetz verdeutlicht die Pflicht zur ärztlichen Behandlung und gilt als religiöse Legitimation medizinischer Heilkunst.
Die Lehren des Talmud betrachten die Gesundheitsfürsorge und die Heilung von Krankheiten als besonders wichtige Pflicht und gebieten sogar die Verletzung anderer Gebote, beispielsweise der Schabbatruhe, wenn es um das Leben eines Menschen geht. Dieses Prinzip nennt der Talmud "Pikuach Nefesch": Lebensrettung. Im 3. Buch Moses 18,5 ist zu lesen: "Beachtet meine Gesetze und Rechtsvorschriften; wer sie lebt, wird durch sie leben." In der rabbinischen Auslegung wird ausdrücklich betont, dass es heißt: "Durch die Gesetze leben, nicht ihretwegen sterben". Dieses Grundprinzip des Pikuach Nefesch erlaubt damit die Übertretung fast sämtlicher Gebote, wenn es um die Lebenserhaltung geht.
Physical Distancing in Talmud und Tora
Wie weit die medizinische Kenntnis schon zu Talmudzeiten entwickelt gewesen sein muss, macht dieser Text deutlich (Babylonischer Talmud Ketubot 77b): "Rabbi Jochanan verkündete: Hütet Euch vor den Fliegen, die auf den mit Lepra Infizierten saßen, weil sie Träger der Krankheit sind. Rabbi Seira pflegte, sich nicht auf einen Platz zu setzen, wo der Wind aus der Richtung eines Lepra-Infizierten wehte. Rabbi Elazar betrat kein Zelt eines Lepra-Infizierten, und Rabbi Ami und Rabbi Asi aßen keine Eier aus einer Gasse, in der ein Infizierter wohnte."
Dieser Text stammt aus einer Zeit, als die Existenz von Viren und Bakterien und der Zusammenhang von mangelnder Hygiene und Ansteckung definitiv noch nicht bekannt waren!
Eine Krankheit, die in der Tora erwähnt wird, ist die Zara’at, ein Hautaussatz, wahrscheinlich die Lepra. So wurde während der 40jährigen Wüstenwanderung der Israeliten der Hautaussätzige des Lagers verwiesen und sein Haus musste gründlich gereinigt werden (3. Buch Moses 13,1ff). Alle sieben Tage sah der Kohen – der Priester – nach ihm, um festzustellen, ob der Ausschlag sich zurückgebildet hatte. In dieser Textstelle wird die Vorstellung einer Übertragung von Infektionskrankheiten deutlich.Vielleicht ist dies die früheste schriftliche Dokumentation einer Quarantäne?
Wunderheilung oder medizinische Handlung?
Im 2. Buch der Könige(4, 32-35) wird uns vom Propheten Elischa erzählt, der ein Kind heilt: "Als Elischa in das Haus kam, lag das Kind tot auf seinem Bett. Er ging in das Gemach, schloss die Tür hinter sich und dem Kind und betete zu Gott. Dann trat er an das Bett und warf sich über das Kind; er legte seinen Mund auf dessen Mund, seine Augen auf dessen Augen, seine Hände auf dessen Hände. Als er sich so über das Kind hinstreckte, kam Wärme in dessen Leib. Da schnaubte der Knabe siebenmal; danach tat der Knabe die Augen auf."
Vielleicht hatten bei der Heilung des Jungen die Beatmung und die Körperwärme den Ausschlag gegeben? Die traditionellen jüdischen Quellen kennen jedenfalls die Notwendigkeit und die Wirksamkeit von medizinischen Handlungen und der damit verbundenen Hoffnung, aktiv eine Verbesserung des Zustandes erreichen zu können.
Über einen einmaligen Quellenfund
Machen wir einen zeitlichen und geografischen Sprung. Der hebräische Ausdruck "Genisa" bezeichnet den Raum in einer Synagoge, in dem alte, aus dem Gebrauch gekommene religiöse Schriften – wie beispielsweise Torarollen – gelagert werden. Forscher entdeckten Ende des 19. Jahrhunderts in der Ben Esra Synagoge in Alt-Kairo eine solche Genisa. Sie fanden darin Briefe und Verträge, Berichte und Protokolle, Eheverträge und Scheidungsbriefe aus fast zehn Jahrhunderten. Diese Quellen befinden sich heute in europäischen und amerikanischen Bibliotheken. Sie umfassen alle Lebensbereiche der jüdischen Gemeinde und beleuchten das jüdische Leben in der Region bis hin nach Sizilien, Spanien, dem Jemen und Indien.
In der Kairoer Genisa wurden auch arabische und hebräische schulmedizinische Traktate, Anfragen von Patienten, Briefe von Ärzten, Rezepte und Kräuterbücher aufbewahrt. Diese Handschriften geben einen faszinierenden Einblick in den hohen Kenntnisstand mittelalterlicher Mediziner und Pharmazeuten und zeigen eine Heilkunst auf höchstem Niveau. Jüdische und muslimische Gelehrte tauschten sich aus und arbeiteten eng zusammen. Dabei waren den Ärzten die klassischen griechischen Autoren wie Hippokrates und Galen in arabischen Übersetzungen bekannt und wurden häufig konsultiert.
Anhand des großartigen Quellenfunds in Kairo lässt sich der Umgang mit Krankheiten, Seuchen, aber auch mit Magie in weiten Kreisen der jüdischen Bevölkerung über die Jahrhunderte rekonstruieren.
Zwischen Aberglaube und empirischer Heilkunst
Schwere Krankheiten wie Seuchen gehörten zu den alltäglichen Bedrohungen des Lebens. In den Städten suchten die Menschen Ärzte auf, die eine auf empirischen Kenntnissen basierende Medizin anboten. Daneben existierte der Bereich der Volksmedizin, der ergänzende Hilfe versprach. Eine klare Trennung von Medizin und Magie ist nicht immer möglich. Zu Heilzwecken waren magische Verfahren offenbar erlaubt, die Annahme, Krankheiten würden von Dämonen verursacht, war weit verbreitet. Handgeschriebene Amulette, die Texte sowohl aus traditionellen Quellen als auch aus kabbalistischen Schriften enthielten, sollten böses Unheil abwenden oder gar Heilung bringen. Oft war die Schrift grafisch so angeordnet, dass sie jüdische Symbole wie die Menora ergaben oder sie wurdein symbolhafte Formen integriert.
Epidemien in der Jüdischen Geschichte Europas
Christliche Ritualmordlegenden bestimmten die jüdisch-mitelalterliche Geschichte grundlegend. Demnach benötigen Juden angeblich das Blut von Christenkindern, unter anderem auch für medizinische Zwecke. Aufgekommen ist diese judenfeindliche Legende 1144 im englischen Norwich. Sie gelangte von England über Spanien und Frankreich im 13. Jahrhundert in den deutschsprachigen Raum. Weit verbreitet ist seit dem Mittelalter auch der Vorwurf der Brunnenvergiftung. Er diente insbesondere zu Zeiten der Großen Pest von 1347 bis 1350 zur Rechtfertigung von Judenverfolgungen.
Im Mittelalter traten die unterschiedlichsten Epidemien auf, die meist undifferenziert als "Pest" bezeichnet wurden. Die jüdische Bevölkerung war in der Regel in doppeltem Maße betroffen: Zum einen wurden sie selbst Opfer der Seuchen, zum anderen suchte die Mehrheitsbevölkerung Schuldige und fand sie allzu oft in den Juden, die in unzähligen Pogromen verfolgt und ermordet wurden. In Frankfurt wurden am 24. Juli 1349 alle Juden erschlagen oder in ihren Häusern verbrannt. Die Zahl der Opfer ist nicht genau bekannt, sie wird auf etwa 60 geschätzt. Insgesamt wurden damals allein in Deutschland etwa 300 jüdische Gemeinden vernichtet.
Jüdische Ärzt*innen im mittelalterlichen Frankfurt
Für die Zeit, als Juden sich zwei Jahrzehnte nach diesem Pogrom wieder in Frankfurt angesiedelt hatten, sind mehrere jüdische Ärzte nachweisbar. Sie standen oft in hohem Ansehen und waren von der allgemeinen "Judensteuer" befreit. Als von der Stadt besoldeter Stadtarzt übte ab 1373 Jakob von Straßburg dieses Amt aus, es folgten 1378 die Physici Isaac Friedrich und 1394 Salomon Pletsch. Es gab sogar "Judenärztinnen", die vor allem Augenleiden kurieren konnten. Aus Frankfurt wissen wir beispielsweise von der um 1430 wirkenden Zerline, dessen augenheilkundliche Fähigkeiten ihr ein großes Ansehen bei den Zeitgenossen einbrachten.
Jüdische Hygienevorschriften
Ein jüdisches Sittenbuch aus dem 15. Jahrhundert fordert: "Eine empfehlenswerte Eigenschaft ist die Reinlichkeit. Kleider, Bett, Tisch und Tischgeräte, insbesondere Nahrungsmittel, überhaupt alles, was wir unter den Händen haben, sei rein; der Körper vornehmlich, der in Gottes Ebenbilde geschaffen ist, darf nie schmutzig sein."
Die jüdischen Hygienevorschriften zielen vorrangig auf eine spirituelle Reinheit ab. Sie sorgten jedoch auch für eine Hygiene und Sauberkeit, die damals außerhalb der jüdischen Gemeinschaften unüblich war. Es ist unklar, ob die zahlreichen Pestepidemien in den jüdischen Gemeinden weniger stark wüteten. Vielleicht sorgte die bessere Hygiene aber für eine auch heute wieder dringend ersehnte abgeflachte Kurve?
Halachische Fragen zum Umgang mit Seuchen
Es stellten sich auch halachische – religionspraktische – Fragen, wie man auf eine Epidemie reagieren solle. So hat zum Beispiel Rabbi Mosche Isserles (bekannt als die aschkenasische Stimme im Schulchan Aruch, genannt ReMaH) im Jahr 1555 Krakau während einer Epidemie verlassen – für einen Rabbiner sehr ungewöhnlich. Rabbiner Israel Salanter wurde u.a. für seine Entscheidung bekannt, während einer Cholera-Epidemie in Wilna 1848 in der Synagoge am Fastentag Jom Kippur den Kiddusch – besondere Segenssprüche über Wein und Brot für Schabbat und Feiertage – gesprochen zu haben. Damit wollte er den Menschen die Wichtigkeit der Nahrungsaufnahme während gesundheitsgefährdender Zeiten auch an diesem heiligen Tag vor Augen führen.
Er erkannte, dass durch das Fasten und die damit verbundene körperliche Schwächung Leben in Gefahr geraten könnten. Er hängte am Vorabend von Jom Kippur Warnplakate in den Synagogen auf. Darauf riet er dringend dazu, nicht zu fasten, die Gottesdienste abzukürzen, zwischendurch spazieren zu gehen und sich gegenseitig beizustehen.
Jüdische Herausforderungen in der Corona-Krise heute
Die Corona-Pandemie stellt alle vor große Herausforderungen, sei es medizinisch, wirtschaftlich, politisch, sozial oder emotional. Auch die jüdisch-religiöse Welt muss sich mit neuen Fragen auseinandersetzen, die es so vorher in der Geschichte noch nicht gab. Die technischen Möglichkeiten beispielsweise bieten neue Verfahren wie Live-Ton- und Bild-Übertragungen an, die in diesen Zeiten der physischen Distanzierung nicht nur in der Arbeitswelt hilfreich sind, sondern – gerade auch durch die Sozialen Medien – ein gemeinschaftliches Gefühl und eine im Idealfall emotionale Annäherung ermöglichen. Wären diese Video-Übertragungen an Feiertagen erlaubt? Auch in der religiösen Beerdigungspraxis beispielsweise müssen sich die Jüdischen Gemeinden den Herausforderungen stellen. Kann die Tahara – die rituelle Totenwäsche – wie gewohnt durchgeführt werden? Was ist mit dem Schiwesitzen – der rituellen Trauerwoche –, wenn die Trauergemeinschaft sich nicht versammeln kann?
Es gilt, den jüdisch-religiösen Umgang mit der Corona-Krise weiter zu beobachten und zu entwickeln. Eine wichtige Aufgabe!
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