Blick in die Westendsynagoge in Coronazeiten. Foto: Rafael Herlich

Wie lebt man jüdisch in der Corona-Krise?

Einige Antworten (meist) aus Frankfurt
Porträt Sara Soussan
07. September 2020Sara Soussan

Ein Einblick in die Sammlungsaktivität des Bereichs der Jüdischen Gegenwartskulturen unserer Kuratorin Sara Soussan.

Die Corona-Pandemie hat während des Lockdown durch die physische Distanzierung in besonderem Maße auch das zwischenmenschliche Miteinander lahmgelegt. Im Arbeitsleben ersetzten Telefon- und Videokonferenzen das Meeting, die Konferenz oder die Fachtagung. Kulturelle Veranstaltungen wie Lesungen, Konzerte und Aufführungen wurden online übertragen und gestreamt. Im Privatleben wurden Omas Geburtstag und der Vereinsstammtisch per Zoom zelebriert. Viele Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie gelten nach wie vor, und es sieht nicht danach aus, dass sich dies in nächster Zukunft entspannt. Verschiedene Plattformen – wie beispielsweise das coronarchiv.de – sammeln hierzu digitale Zeugnisse aus dem Alltagsleben während der Pandemie.

Wie kann eine religiöse Praxis gelebt werden?

Gebet unter freiem Himmel bei der muslimischen Gemeinde in Warendorf
Gebet unter freiem Himmel bei der muslimischen Gemeinde in Warendorf

Die religiöse Praxis funktioniert über gemeinschaftliche Erfahrungen. Man betet, feiert und isst zusammen und ist im besten Fall gemeinsam inspiriert, glücklich und zufrieden. Was ist nun aber, wenn der persönliche physische Kontakt nicht möglich ist?

Viele Religionsgemeinschaften suchen hier teilweise neue Wege, um ein religiöses Gemeinschaftserlebnis ohne körperliche Nähe zu erzeugen. So hält beispielsweise ein italienischer Pfarrer seine Messe mit ausgedruckten Selfies seiner Gemeindemitglieder ab. In Warendorf veranstaltet die muslimische Gemeinde coronabedingt zum ersten Mal seit ihrem Bestehen einen Gottesdienst unter freiem Himmel, um die Abstandsregeln einhalten zu können.

Wie funktioniert jüdisches Leben ohne physische Gemeinschaft?

Lila Hintergrund und englischer Witz über eine Mesusa
Humor hilft auch in der Corona-Krise. Quelle: kolcorona

Jüdische Einrichtungen, Gemeinschaften, Organisationen und Gebetsorte sind natürlich denselben Einschränkungen unterworfen wie nichtjüdische. Eine jüdisch-amerikanische Website, die als eine der ersten zu Beginn der Pandemie online ging, bietet vielfältige Informationen rund um COVID-19 an. Es gibt Auflistungen mit Online-Gottesdiensten, Video-Kursen, medizinischen Berichten und Tipps, es ist aber auch Witziges zu finden, wie etwa das nebenstehende Bild von der Seite www.kolcorona.com.

So galt und gilt es, Transformationen von jüdischem Gemeinschaftsleben – gerade im digitalen Bereich – zu erfassen und zu sammeln. Unser Sammlungsbereich der Jüdischen Kulturen der Gegenwart hat nun seit Beginn der Pandemie einen Link-Pool zum jüdischen Frankfurt in der Corona-Pandemie angelegt, er füllt sich rasant mit Internetlinks, Videos, digitalen Texten und Fotos. Hier nun ein Einblick in unsere digitale Sammlungsaktivität anhand einiger Beispiele.

Gemeinschaft digital

Screenshot von einer Zoom-Übertragung mit zwei jungen Männern darauf
Die Hebrew Library Frankfurt feierte Jom Ha’azmaut, den israelischen Unabhängigkeitstag, per Zoom-Live-Übertragung.

"Wir sind eine starke Gemeinschaft, gerade auch jetzt, und stehen zusammen." Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde Frankfurt schickt seit Beginn des Lockdown Schabbat-Grußworte an die Gemeindemitglieder und informiert regelmäßig über notwendige Maßnahmen, auch auf der Gemeinde-Homepage.

"Wir stehen vor den verschlossenen Toren unserer Synagoge." Artikel in der Jüdischen Allgemeinen zur Hoffnung in der Krise vom Frankfurter Gemeinde-Rabbiner Avichai Apel.

"Wir sind eine Gemeinschaft, auch wenn wir zu Hause und alleine beten." So sagte der Frankfurter Gemeinde-Rabbiner Julian-Chaim Soussan in einer Video-Botschaft zu Beginn des Lockdown.

"Von Aachen bis Wuppertal": Hier informiert der Zentralrat der Juden in Deutschland über Angebote der Jüdischen Gemeinden in der Corona-Krise.

"Good morning Frankfurt!" Die Hebrew Library Frankfurt feierte Jom Ha’azmaut, den israelischen Unabhängigkeitstag, per Zoom-Live-Übertragung.

"Gemeinden halten den Kontakt mit Gemeindemitgliedern über die sozialen Netzwerke." Auch die Jüdische Allgemeine berichtet über Online-Angebote Jüdischer Gemeinden in Deutschland.

"Wir gedenken dennoch gemeinsam der Ermordeten." Digitale Gedenkstunde zu Jom haSchoa 2020 – dem jüdischen Holocaust-Gedenktag - der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

#WeCare

Zwei Screenshots von Facebook-Posts
Zwei Beispiele für Corona-Hilfen der ZWST über die Chawerim-Hilfsbörse

"Russischkenntnisse von Vorteil": Bundesweit engagierte sich die in Frankfurt ansässige Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland in der Betreuung Hilfsbedürftiger in der Corona-Krise. Die Chawerim-Hilfsbörse (Chawerim=Freunde) vermittelt per Facebook private Hilfen.

"Trost aus zwei Metern Entfernung": Ältere Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, stehen im besonderen Fokus der Hilfsmaßnahmen, wie die Jüdische Allgemeine berichtet. Der "Treffpunkt" der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ist eine Initiative, die sich allgemein um Schoa-Überlebende kümmert. In der Corona-Krise verschärft sich ihre Lage noch einmal, die beängstigende Situation löst bei manchen Retraumatisierungen aus.

"Die Sicherheit und die Geduld bröckeln." Expertengespräch per Video zur Situation von Schoa-Überlebenden.

Wie kann die jüdische Religionspraxis in physischer Distanz ausgelebt werden?

Screenshot: Onlinegedenkveranstaltung für Corona-Opfer in Europa
Onlinegedenkveranstaltung für Corona-Opfer in Europa

Die digitalen Medien und sozialen Netzwerke waren schon vor der Corona-Pandemie im Rahmen der allgemeinen Digitalisierung hilfreich und wurden in den jüdischen Communities rege genutzt, um jüdisch-religiöses Leben digital zu unterstützen. Auf diese Erfahrungen wurde nun aufgebaut und die Angebote werden ausgedehnt.

Unter diesem Link hat der Zentralrat der Juden in Deutschland religiöse Online-Angebote während der Corona-Krise gesammelt.

Hier findet Ihr religiöse Fragen zur Corona-Pandemie, Antworten zusammengestellt vom Zentralrat der Juden in Deutschland.

"Please add your own": Umfrage zu coronabedingten Veränderungen im jüdisch-orthodoxen Leben auf Instagram.

"Heute Abend erinnern wir an unsere Lieben, die nicht mehr bei uns sind." Die Jüdische Allgemeine berichtet über Gedenk-Gottesdienst online für Corona-Opfer in Europa.

"Eternal One, Rock of our lives, we turn to you in the midst of this coronavirus crisis…": Liberales Corona-Gebetbuch des Londoner Leo Baeck College zum Herunterladen.

Balkon-Gebet im Jüdischen Altenzentrum in Frankfurt-Bornheim
Balkon-Gebet im Jüdischen Altenzentrum in Frankfurt-Bornheim. Filmstill aus einem Video des Frankfurter Fotografen Rafael Herlich.

Während des Lockdowns waren die Gottesdienste für alle Religionsgemeinschaften auch in Frankfurt verboten. Nun gibt es – zumindest im orthodoxen Judentum – einige Gebete, die nur in physischer Anwesenheit von zehn Betern (Minjan) gesagt werden können. Hierzu gehört beispielsweise das Kaddisch, das auch in Erinnerung an Verstorbene gesprochen wird. Auch um zumindest dies zu ermöglichen veranstaltet Rabbiner Shlomo Raskin des Frankfurter Jüdischen Altenzentrums im Stadtteil Bornheim "Balkon-Gebete", bei dem die Betenden die physische minimal erforderliche Nähe herstellen. Hier der Link zum Video.

Gottesdienste

Screenshot aus einem Artikel der Jewish Telegraphic Agency über Rabbiner Zsolt Balla aus Leipzig
Screenshot aus einem Artikel der Jewish Telegraphic Agency über Rabbiner Zsolt Balla aus Leipzig

In liberalen religiösen Strömungen werden Online-Gottesdienste an Schabbat und Feiertagen schon seit längerer Zeit veranstaltet. Die orthodoxen Gruppierungen lehnen dies aufgrund des Schabbat-Gebotes ab. Hier ist die aktive Betätigung von Elektrizität verboten und somit die Nutzung digitaler Tools wie beispielsweise Videokonferenzen nicht möglich.

Rabbiner Zsolt Balla aus Leipzig veranstaltet seit Beginn des Lockdowns wochentäglich Morgen- und Abendgottesdienste sowie Schabbat-Einstimmungen und Hawdala-Zeremonien, stets ganz allein in seiner Leipziger Synagoge.

"I started watching this German rabbi praying alone early in the pandemic, and I couldn’t stop": Die Beharrlichkeit eines deutschen Rabbiners war der Jewish Telegraphic Agency einen Artikel wert.

Einladung zu einer online Hawdala des Frankfurter Rabbiners Appel
Einladung zu einer Online-Hawdala des Frankfurter Rabbiners Avichai Appel

"Bereitet schon mal eure Schabbat-Kerzen und einen Kidduschbecher vor…" Viele Synagogengemeinden stimmen ihre Mitglieder per Video-Konferenz auf den Schabbat ein. So lädt die Berliner Fraenkelufer Synagoge zu virtuellen Pre-Schabbat-Feiern ein.

"Schabbat Schlom!" Die Mitarbeiter*innen der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) wünschen in einer Video-Botschaft Schabbat Schalom.

"Bleib zu Hause und mach mit!" Kabbalat Schabbat und Online Hawdala mit dem Frankfurter Gemeinderabbiner Avichai Apel.

Pessach 2020: Die Königsdisziplin

Seder unter Corona-bedingungen
Seder unter Corona-Bedingungen...

Pessach ist ein Fest, dass nun wirklich die Mehrheit der jüdischen Leute irgendwie begeht. Der Sederabend wird meist groß mit Familie, Freundeskreis und Gemeinde gefeiert, die ganze jüdische Welt bereist und bekocht sich gegenseitig. Der Abend folgt einer gewissen Ordnung, die in der Haggada festgeschrieben ist und eine genaue Reihenfolge der unterschiedlichen Schritte vorsieht.

Hierbei werden einmal vor dem Mazza-Essen die Hände gewaschen, dieses heißt im Ablauf "Urechatz". Diese Illustration integriert die allgemeinen coronabedingten Aufrufe zum Händewaschen – nicht ganz ernst gemeint – in den Seder-Ablauf.

Rabbinische Fragen rund um den Seder

Wenn nur die im Haushalt lebenden Personen an der Sederfeier teilnehmen dürfen, so schrumpft doch der Kreis dramatisch. Gerade alleinstehende und ältere Menschen standen zu Beginn des Lockdown vor einer völlig ungewohnten Frage: Wie verbringe ich den Sederabend allein?

Im Kontext der Corona-Pandemie erlaubten israelisch-sefardische orthodoxe Rabbiner erstmals die Nutzung der Video-Konferenz für den Sederabend, um einsame Menschen am Gemeinschaftsgefühl teilhaben zu lassen, wie hier zu lesen ist.

Diese Entscheidung löste in den orthodoxen Communities großen Wirbel aus, gelten doch für die Feiertage ähnliche Verbote wie am Schabbat, also auch bezogen auf die Betätigung von Elektrizität. Die Diskussionen wurden digital geführt, hier ein Beispiel für einen ablehnenden Standpunkt im Youtube-Video.

Einladung zum Zoom-Matza-Backen für Kinder
Chabad Frankfurt lud Kinder zum Zoom-Matza-Backen ein

"Man braucht eine Schüssel…" Einladung zum Zoom-Matza-Backen für Kinder von Chabad Frankfurt.

"Schicken Sie bitte so schnell wie möglich den Namen." Angebot von Rabbiner Shlomo Raskin, der Verstorbenen im Jiskor-Gebet, das an Pessach in der Synagoge gesagt wird, beim Balkon-Gottesdienst zu gedenken.

"Von allen Aufzeichnungen, die ich wegen Corona in der letzten Zeit gemacht habe, ist diese hier vielleicht die seltsamste…" Gedanken zu Jiskor per Video-Botschaft von Rabbiner Julian-Chaim Soussan.

Familie

Foto von Rabbiner Julian-Chaim Soussan
Gutenachtgeschichten für Kinder las der Frankfurter Rabbiner Julian-Chaim Soussan auf seinem erfolgreichen Facebook-Kanal vor

Eine große – berechtigte – Sorge während des Lockdown war für alle die Situation in den Familien. Drohender Jobverlust, räumliche Enge, ungewohntes „Aufeinanderhocken“, stressiges Homeschooling: all dies kann für Familien sehr schwierig werden. Rabbiner Apel gab hierzu frühzeitig Online-Kurse.

"Alle paar Tage lese ich Euch eine Gutenachtgeschichte vor…" Gute-Nacht-Geschichten für Kinder, online gelesen von Rabbiner Julian-Chaim Soussan.

"Der Applaus kam … per Facebook-Kommentar." Die Jüdische Allgemeine zu "Simches per Zoom".

"Zoom Mitzvahs": Selbst bedeutende Familienereignisse wie die Bar/Bat Mizwa oder eine Hochzeit, die gewöhnlich mit vielen Gästen gefeiert werden, finden digitale Ausdrucksformen, wie im Tablet Magazin zu lesen ist.

"Masal tow!" Die Brit-Mila in einer Frankfurter Familie konnte per Live-Stream in Facebook mitverfolgt und –gefeiert werden.

"Nur die engsten Familienangehörigen": Bei Trauerfällen wirken die Corona-Beschränkungen teilweise sehr einschneidend. So gibt es vor der Beerdigung keine Zeremonie in der Trauerhalle und es dürfen nur die direkten Angehörigen teilnehmen. Die Schiwa, die Trauerwoche, darf nicht wie sonst üblich im Kreise der Verwandten und Freunde verbracht und es kann nicht immer das Kaddisch-Gebet für Verstorbene gesagt werden. Die Isolation isoliert die Trauernden in den Momenten, in denen sie die physische Gemeinschaft am stärksten brauchen. Im folgenden Video äußert sich der Frankfurter Rabbiner Apel in einem neu produzierten Filminterviews für den Sammlungsbereich der Jüdischen Kulturen der Gegenwart.

"In Zeiten der Pandemie Single zu sein ist eben auch besonders belastend." Neue Partner*innen kennenzulernen geht nicht ohne realen Kontakt, findet der Frankfurter Partnervermittler in diesem Artikel aus der Jüdischen Allgemeinen.

Vorsichtige Synagogen-Öffnungen

Foto der Frankfurter Westendsynagoge
In der Frankfurter Westendsynagoge. Foto: Rafael Herlich.

Die Frankfurter Westendsynagoge war wohl die erste weltweit, die nach dem Lockdown wieder für Gottesdienste öffnete. Hierüber berichtet die israelische Online-Zeitung Kikar Schabbat (auf Hebräisch). Hier auch ein Interview mit Rabbiner Julian-Chaim Soussan (auf Hebräisch ab Minute 26).

Der Frankfurter Fotos Rafael Herlich veröffentlichte auf seinem Facebook-Kanal Fotos der ersten Gottesdienste nach dem Lockdown sowie von Schawuot in der Westendsynagoge.

"Umkehr mit Maske": Die Jüdische Allgemeine über die bevorstehenden Feiertage Rosch haSchana und Jom Kippur in Corona-Zeiten.

Jüdisches in der Corona-Krise sammeln

Sara Soussan im Gespräch mit dem Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

Die Sammlungsaktivität im Bereich der Jüdischen Gegenwartskulturen fokussiert sich in dieser Pandemie-Krise auf Momentaufnahmen. Hierzu haben wir – neben dem digitalen Sammeln – bislang 30 Zoom-Interviews mit Funktionsträger*innen jüdischer Organisationen in Frankfurt aufgezeichnet. Es bleibt spannend: Was wird sich von den digitalen jüdischen Angeboten halten? Inwiefern wird sich künftig eine digitale Religionsausübung etablieren? Kann man schon von einer digitalen Transformation in der Religionspraxis sprechen? Es bleibt auf alle Fälle zu beobachten und weiter zu sammeln…

Wenn Euch etwas Interessantes dazu – analog oder digital – begegnet, meldet Euch gerne bei sara.soussan@stadt-frankfurt.de oder hinterlasst einen Kommentar unter diesem Beitrag.

Sara Soussan

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