Atrium im Lichtbau des neuen Jüdischen Museums von Staab Architekten

Jahresrückblick 2020

Ein Jahr zwischen Zittern und Freude, Dank und Schmerz
Porträt von Mirjam Wenzel
21. Dezember 2020Mirjam Wenzel

Das Jahr 2020 war auch im Jüdischen Museum sehr turbulent. Unsere Direktorin Mirjam Wenzel wirft einen Blick zurück auf die wichtigsten Ereignisse.

„Neues Jahr, neues Glück“ – schrieb ich in unserem Newsletter zu Beginn des Jahres 2020, soeben wissend, dass das neue Jüdische Museum nicht wie ursprünglich geplant im April, sondern erst im Herbst eröffnen würde. Zuversichtlich erneuerten wir unsere Jahresplanung und luden Journalist*innen zu einer Pressekonferenz ein – nicht wissend, dass uns ein Jahr jenseits aller Planbarkeiten bevorstehen würde.

Es sollte ein fulminanter Start sein...

Flyer zum Symposium Zwischenzeiten: Zur Jüdischen Diaspora in Europa
Musste wegen Corona abgesagt werden: unser Symposium "Zwischenzeiten: Zur Jüdischen Diaspora in Europa"

Die Vorfreude auf das neue Museum wuchs mit der interdisziplinären Konferenz, die wir zum Thema unserer ersten Sonderausstellung unter dem Titel "The Female Side of God. Representations of a Suppressed Tradition" an der Goethe-Universität veranstalteten. Noch freudiger stimmte mich die Nachricht des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, dass man dem Jüdischen Museum von nun an jährlich eine institutionelle Landesförderung zukommen lassen wolle. Von langer Hand geplant, tummelten wir uns in den ersten Monaten, um die beiden großen Veranstaltungen auf die Beine zu stellen, mit denen wir das Profil unseres neuen Museums auf jeweils besondere Weise schärfen wollten: den Gala-Abend zur erstmaligen Verleihung des Ludwig Landmann-Preises für Mut und Haltung an Saul Friedländer und das Symposium Zwischenzeiten: Zur Jüdischen Diaspora in Europa (verschoben auf 21./22. März 2021), das den Gegenwartsbezug unserer Museumsarbeit unterstreichen und sich kritischen Zukunftsfragen zuwenden wollte. 

Doch dann kam alles anders.

Leben im Digitalen

Mirjam Wenzel im Gespräch mit Daniel Hope
Eines unserer digitalen Angebote während des ersten Lockdowns im Frühjahr war der Videocast #Tachles - Gespräche zur Krise, hier mit dem Starviolinisten Daniel Hope.

Nur drei Tage vor Beginn mussten wir das Symposium und anschließend auch den Gala-Abend absagen, unser Museum Judengasse schließen und unsere gesamte Organisation so umstellen, dass alle von zuhause arbeiten konnten. Die Corona-Pandemie hatte unser Tun und Denken fest im Griff, die Zeit der Videokonferenzen begann. Um weiterhin in Kontakt mit unseren Besucher*innen zu bleiben, entwickelten wir eine Reihe von Online-Angeboten, wie etwa Lese- oder Hörempfehlungen auf Social Media, Blogbeiträge zu den Themen Reinheit und Hygiene in der jüdischen Tradition oder zum Umgang mit Seuchen in der jüdischen Geschichte. Wir launchten eine Online-Ausstellung zum 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki und ich machte eine Reihe von kurzen Interviews mit verschiedenen Persönlichkeiten über die Corona-Krise und Krisen im Allgemeinen, die wir als #tachlesVideocast online stellten. Zu den besonderen Momenten in dieser ersten Schließzeit gehörte für mich auch das Gespräch, das ich, mit meiner Kollegin Sarah Fischer alleine im Museum Judengasse sitzend, mit Rabbinerin Delphine Horvilleur über ihr Buch "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus" führte (abrufbar auf YouTube).

Die Rückkehr in den physischen Raum

Gesichtsmaske mit dem jiddischen Aufdruck "Say gezunt" aus dem Jüdischen Museum Frankfurt
Unsere Stoffmasken mit dem jiddischen Schriftzug "Say gesunt" waren rasch ausverkauft. Say gesunt, so sagt man auf Jiddisch zum Abschied wie etwa "Mach’s gut" oder "bis später". Man kann es aber auch wörtlich nehmen, im Sinne von bleib gesund oder auch werde gesund.

Ende April verdichteten sich dann die Anzeichen, dass wir im Mai unser Museum Judengasse wieder eröffnen würden. Wir fragten unsere Online-Besucher*innen, ob die von uns geplanten Hygienemaßnamen ihren Erwartungen entsprächen und produzierten binnen einer Woche Stoffmasken mit dem Schriftzug ‚Say Gesunt’, die sich noch heute großer Beliebtheit erfreuen. Und dann kam der ersehnte Tag unserer Wiedereröffnung: Wir hießen unsere ersten Besucher*innen persönlich willkommen, schenkten Kindern ein Mitmachbuch und freuten uns über jede*n, der kam. Es waren zunächst nur wenige Mutige, in den darauffolgenden Wochen wurden es immer mehr.

Der Sommer der Nerven

Filmstill mit Mirjam Wenzel
Mirjam Wenzel in der ersten Folge der Videoreihe #Zukunftsmusik, abrufbar auf unserem YouTube-Kanal.

Ab Juni ging es für unser Team mit Siebenmeilenstiefeln in Richtung Eröffnung des neuen Jüdischen Museums: wir drehten die Videoreihe #Zukunftsmusik in unserem neuen Haus, bezogen unsere neuen Büros im renovierten Rothschild-Palais und verbrachten die folgenden Monate damit, uns zwischen Bohren, Sägen, Testläufen der Anlagen in die neue Arbeitssituation einzufinden und unter Hochdruck die Eröffnung vorzubereiten. Die Bauten unserer neuen Dauerausstellung waren im dritten Stockwerk bereits im vergangenen Jahr fertig gestellt worden; nun folgte die Objekteinbringung, das Fertigstellen der beiden anderen Ausstellungsetagen, die Installation der Medientechnik, das Anbringen der Schriften und das Einleuchten. Ab September begannen dieselben Arbeiten an unserer ersten Wechselausstellung – begleitet von der Frage: würden wir es schaffen, mitten in der Pandemie die vereinbarten Leihgaben von Museen aus den USA, England, Frankreich, Griechenland und Israel zu bekommen? Und: würde die Klimaanlage endlich so funktionieren, dass das Einbringen wertvoller Leihgaben zu verantworten war? Diese Frage beschäftigte uns bis zum Schluss und beides ist letztlich gelungen. Was für ein Glück!

Vorfreude auf die große Eröffnung

Der "Bus der Zukunft" vor dem Südbahnhof in Frankfurt
Die letzte Po-Up-Aktion vor der Eröffnung des neuen Jüdischen Museums: der "Bus der Zukunft".

Im August lancierten wir mit unserer "Wir sind jetzt"-Kampagne das Vorfreuden-Programm auf die große Eröffnung. Begleitet von einem Countdown auf der Medienfassade unseres Lichtbaus starteten wir gemeinsam mit Shai Hoffmann eine letzte Pop Up Aktion: den Bus der Zukunft, mit dem wir 5 Tage lang auf verschiedenen öffentlichen Plätzen gastierten und uns mit Passant*innen über Zukunftsfragen und ihre Erwartungen an unser neues Museum unterhielten.

Im September folgte die Auftaktveranstaltung unserer Gesprächsreihe "Denken ohne Geländer", in der sich Michel Friedman mit Ulrich Matthes über das Thema Hoffnung unterhielt (abrufbar auf YouTube). Die Sitzskulptur von Tobias Rehberger, die wir eigens für diese Reihe in Auftrag gegeben hatten, war noch im Entstehen begriffen, der erste Livestream aus dem Foyer unseres Lichtbaus funktionierte und die wenigen Gäste, die aufgrund der Corona-Auflagen zugegen waren, durften im Sitzen ihre Masken abnehmen und Getränke zu sich nehmen

In den folgenden Wochen mussten wir in Absprache mit dem Gesundheitsamt fortwährend unser Angebot justieren, um die Gäste bei den Previews vor der Eröffnung keinen gesundheitlichen Gefährdungen auszusetzen. Unser Museumsvorplatz erwies sich dabei als ein wunderbarer Ort für ausgedehnte Abende, die wir dank unseres FLOWDELI auch mit Snacks und Drinks ansprechend gestalten konnten.

Die Eröffnung des neuen Jüdischen Museums

Festakt zur Eröffnung des neuen Jüdischen Museums in der Alten Oper Frankfurt
Beim Festakt zur Eröffnung des neuen Jüdischen Museums in der Alten Oper Frankfurt. Foto: Salome Roessler

Dann war er endlich da: jener 20. Oktober, an dem wir unser Museum in einem Festakt mit Reden und Grußbotschaften aus aller Welt und einem Konzert des Ensembles Modern in der Alten Oper eröffnen konnten. Von langer Hand geplant, mussten wir das Programm bis zur letzten Minute immer wieder den Umständen anpassen. So galt es etwa 600 Gäste wieder auszuladen, weil angesichts der politischen Beschlüsse zur Eindämmung der Pandemie eine derart große Veranstaltung nicht mehr angemessen erschien. Wenn auch weitgehend ohne Publikum, war der Festakt dennoch bewegend und wird allen Anwesenden noch lange im Gedächtnis bleiben.

Glücksmoment

Mirjam Wenzel vor dem Jüdischen Museum Frankfurt
Kurz vor der Publikumseröffnung des Jüdischen Museums spricht Mirjam Wenzel hier vor den Gästen eines Preview-Events mit dem Hessischen Kreis.

Die Eröffnung und das Museum selbst wurden von der Presse einhellig gefeiert. Die euphorischen Besprechungen und die Begeisterung der Besucher*innen, die in den darauffolgenden Tagen in unser neues Museum strömten, haben mein Team und mich sehr glücklich gemacht. Nach mehr als fünf Jahren intensiver Arbeit war die Vision aufgegangen: die intensiven Gedanken, das große Herz und die Kraft, die unser Team zusammen mit so vielen anderen in das Projekt gesteckt hatten, waren allerorts spüren – das neue Museum strahlte mit eben der Kraft, Wärme und Präzision im Detail, die wir uns gewünscht hatten. Es war wunderbar.

Elf Tage und sechs Wochen

Joy Denalane im Jüdischen Museum Frankfurt
Auftritt von Joy Denalane bei der Eröffnung unserer Wechselaustellung "Die Weibliche Seite Gottes". Foto: Salome Roessler

Kurz nach dem Festakt eröffneten wir unsere erste Wechselausstellung "Die weibliche Seite Gottes" mit einem Ladies Evening, bei dem als Überraschungsgast die Botschafterin unserer Eröffnungskampagne, Joy Delalane, auftrat. Auf diesen stimmungsvollen Abend folgte die Eröffnung unserer Bibliothek mit einer Ehrung unseres Gründungsdirektors Georg Heuberger, die von einer akustischen Eiweihung des Lichtbaus durch einen minimalistische Percussion-Act begleitet wurde. Es sollte der letzte Abend mit vielen geladenen Gästen sein. Im Schatten unserer Eröffnungswoche hatte das Infektionsgeschehen einen exponentiellen Verlauf angenommen. Nur elf Tage, nachdem wir unser Museum zu ersten Mal denjenigen zeigen durften, für die wir es gemacht haben, mussten wir es wieder schließen. Ein bitterer Moment.

Die Auflagen zur Eindämmung der Pandemie ermöglichten es uns, unsere Bibliothek offen zu lassen und wir einigten uns mit dem FLOWDELI und der Literaturhandlung darauf, dass der Lichtbau weiterhin geöffnet bleiben und sie ihre Waren verkaufen würden. Das Angebot wurde im November gut angenommen, aber je mehr die Temperaturen sanken, desto weniger Menschen fanden den Weg zu uns. Als dann Mitte Dezember der politische Beschluss zum harten Lockdown fiel, entschieden wir, auch den Lichtbau nach sechs Wochen ganz zu schließen und verlagerten unsere Arbeit erneut in den digitalen Raum.

#closedbutopen

Screenshot aus der digitalen Sammlung des Jüdischen Museums Frankfurt
Screenshot aus unserer digitalen Sammlung, die wir im Oktober 2020 gelauncht haben.

Pünktlich zur Schließung war es uns gelungen, unsere Online-Sammlung zu launchen, die die Objekte unser beiden Dauerausstellungen vorstellt, deren Nachnutzung ermöglicht und ausgewählte Geschichten präsentiert. So können unsere Besucher*innen nun zumindest digital erkunden, was Ihnen physisch vorerst verwehrt ist. Die Objekte, die nicht in unseren Dauerausstellungen zu sehen sind, haben unterdessen im physischen Raum einen neuen Ort bezogen: Unsere Sammlung wird nun in neuen Depoträumlichkeiten bewahrt.

Michel Friedman, Museumsdirektorin Mirjam Wenzeln und der Starpianist Igor Levit im Jüdischen Museum
Gastgeber Michel Friedman, Museumsdirektorin Mirjam Wenzeln und der Starpianist Igor Levit vor der Sitzskulptur, die der Künstler Tobias Rehberger eigens für die Gesprächsreihe "Denken ohne Geländer" geschaffen hat. Foto: Stefanie Kösling

Auch das Symposium Politische Dimensionen kultureller Bildung, das wir von langer Hand mit der Bundeszentrale für politische Bildung veranstalteten, zog mehrfach um. Als zentrale Veranstaltung im Rahmen unserer Eröffnung geplant, gingen wir lange Zeit davon aus, es zumindest hybrid durchführen zu können. Schließlich haben wir es komplett ins Internet verlegt, wo es sich dafür bundesweiten Zuspruchs erfreute. Es folgten zwei weitere Veranstaltungen, die wir ausschließlich als Livestream anboten, wobei ich das Vergnügen hatte, bei dem sehr persönlichen, ja intimen Gespräch zwischen Michel Friedman und Igor Levit über Identität als einzige Zuschauerin zugegen zu sein.

Veränderungen

Porträt von Sabine Kößling
Die leitende Kuratorin unserer beiden Dauerausstellungen, Sabine Kößling, hat unser Team zum Ende dieses Jahres verlassen.

„Ich habe in den letzten Jahren immer mehr Schichten abgebaut und bin immer mehr zu mir selbst vorgedrungen,“ sagte Igor Levit zu Beginn dieses Gesprächs. Als ein ebensolches Vordringen habe auch ich dieses Jahr erlebt. Während auf den Demonstrationen gegen die Corona-Pandemie sich immer unverhohlener Geschichtsrevisionismus und judenfeindliche Verschwörungsmythen artikulierten, haben wir ein Museum eröffnet, das die longue durée der jüdischen Geschichte Frankfurts in persönlichen Geschichten erfahrbar macht und auf Empathie und Selbstreflexion setzt.

Dass wir als Team unseren Erfolg nicht wirklich gemeinsam feiern konnten, schmerzt noch immer. Nicht zuletzt auch, weil gegen Ende des Jahres die leitende Kuratorin unserer beiden Dauerausstellungen, Sabine Kößling, unser Team verlassen hat, um in Lübeck ein neues Leben mit ihrer Familie zu beginnen. Sie wird fehlen, wenn wir unsere Türen wieder öffnen und in unmittelbarem Kontakt mit unseren Besucher*innen stehen dürfen. Dafür hat sich unser Team unterdessen mit Christina Seipp, Arwin Mahdawi und Janis Lutz um neue Kolleg*innen erweitert. Inmitten all der vielen Veränderungen nahmen auch mehrere weibliche Bäuche in unserer Mitte runde Formen an, so dass wir uns im kommenden Jahr auf drei #Museumbabies freuen dürfen.

Ruhe

Atrium im Lichtbau des neuen Jüdischen Museums von Staab Architekten
Atrium im Lichtbau des neuen Jüdischen Museums von Staab Architekten. Foto: Norbert Miguletz © Jüdisches Museum Frankfurt

„Wer dem großen Glück nachläuft, entläuft der Ruhe“, besagt ein jüdisches Sprichwort. Ich vertraue darauf, dass sich das Glück, ein lebendiges Museum mit vielen Besucher*innen gestalten zu dürfen, im kommenden Jahr wieder einstellt. Ich wünsche Ihnen, liebe Leser*innen, meinen Kolleg*innen und mir selbst zum Ausklang dieses unvergleichlichen Jahres einstweilen Ruhe und Zuversicht. Zayt gesunt!

Mirjam Wenzel

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