Die preisgekrönte schwedische Autorin Rose Lagercrantz hat ein Kinderbuch vorgelegt, das sich mit dem Schicksal der europäischen Jüdinnen und Juden befasst. Rifka Ajnwojner aus unserem Bildungs- und Vermittlungsteam hat mir ihr darüber gesprochen.
Im Nachwort zu ihrem Buch „Zwei von jedem“, über das wir heute sprechen, erwähnen Sie, dass der schwedische Rundfunk sie bat, ein Märchen zum Thema Schicksal der europäischen Jüdinnen und Juden zu schreiben. Sie wollten zunächst nicht, mit der Begründung, der Nationalsozialismus und der Antisemitismus seien keine Märchen. Wieso haben Sie sich dennoch dazu entschieden?
Ich habe bereits mehrere Bücher über das jüdische Schicksal des letzten Jahrhunderts geschrieben. Die haben jedoch mehr einen dokumentarischen Charakter und richten sich an ältere Jugendliche und Erwachsene. Der Gedanke, jetzt zu dem Thema etwas für kleine Kinder schreiben zu sollen, hat mich zunächst verunsichert. Ich wollte es dennoch versuchen und suchte nach einer Möglichkeit, der Bitte nachzukommen. Ich habe viel mit Überlebenden gesprochen, über ihre Erfahrungen und Erlebnisse ebenso wie über die alte jüdische Welt, die Welt vor Auschwitz. Ihre Erlebnisse und Erzählungen habe ich genutzt, sie ineinander verwoben, sodass die Details der Geschichten stimmen, aber in der Zusammensetzung ein Märchen, eine Fiktion entstanden ist. Es ist also ein Märchen aus wahren Begebenheiten entstanden, sonst hätte ich die Geschichte so nicht schreiben können.
An Holocaustliteratur werden oft spezielle Kriterien angelegt. So wird beispielsweise viel mehr auf die korrekte Darstellung historischer Ereignisse und die Authentizität geachtet als bei anderen Genres. Immer wieder wird diskutiert, wie viel Fiktion ein Buch über den Holocaust verträgt. Wie stehen Sie dazu?
Geschichten müssen nicht wahr sein, aber wenn man über Schicksale über den Holocaust spricht, müssen es echte Geschichten sein. Es ist nicht nötig, sich welche auszudenken. Es gibt unzählige Schicksale, die (noch) zu erzählen sind. Im Fall von „Zwei von jedem“ war der Anspruch, diese kindgerecht zu erzählen. Daher musste ich einzelne Aspekte weglassen, weil die Handlung sonst Kindern nicht zumutbar gewesen wäre. So ist schließlich eine Geschichte entstanden, die aus vielen verschiedenen besteht. Mein anfängliches Unbehagen, den Auftrag anzunehmen, rührt auch an eine andere interessante Frage: Soll und kann man Kindern überhaupt vom Holocaust erzählen?
Ihr Buch verharmlost nichts. Sie sprechen von der Tötung von Jüdinnen und Juden und den Vernichtungslagern. Aber Sie finden eine klare Sprache und eine Angemessenheit, die dieses Buch auch zu einem Kinderbuch macht. Wie war der Prozess während des Schreibens? Wie haben Sie für sich entschieden, welche Aspekte des Holocaust Sie erwähnen – entweder in der Geschichte oder im Nachwort – und wo Sie Grenzen in den Details setzen?
Meine Mutter hat Auschwitz überlebt, die meisten ihrer Familienmitglieder nicht. Mir war also bewusst: ich kann nichts erfinden. Aber wie soll ich davon berichten? Hierbei war die Figur Eli meine Rettung. Er will zunächst auch nicht von seinen Erlebnissen erzählen, wird jedoch gemahnt zu sprechen und dann passiert mit ihm, was auch mit mir geschehen ist: Er fängt an, zu berichten. Ich begann zunächst von der kleinen Stadt zu schreiben, aus der meine Mutter kam, von ihrem Leben vor dem Krieg. Das fiel mir leicht. Als ich zur Deportation nach Auschwitz komme, konnte ich nicht weitermachen. An der Stelle lasse ich den Erzähler Eli sagen: „Hier brauche ich eine Pause.“ Ich brauchte sie. Dann habe ich eine Freundin meiner Mutter angerufen, die noch lebt, und habe sie gefragt, wie ich weiter vorgehen soll. Soll ich Neunjährigen von den Gaskammern berichten? Daraufhin hat sie geschrien: „Nein, erzähle alles, aber nicht vom Gas“.
Sie sprechen aber die Vergasung von Jüdinnen und Juden in den Vernichtungslagern im Nachwort an!
Als die Geschichte zunächst für den Rundfunk geschrieben und dort gesendet wurde, gab es noch kein Nachwort. Das habe ich erst im Nachhinein verfasst, als die Geschichte als Buch veröffentlicht wurde. Die Verlegerin bat mich, die Leser*innen aufzuklären, was an der Erzählung wahr ist. Das hat sich letztlich auch gut angefühlt.
Sie verheimlichen den Kindern, also den Leser*innen des Buches, im Nachwort auch nicht, dass es nach wie vor Nazis und Antisemiten gibt, die „nicht an irgendwelchen Reißzähnen zu erkennen [seien] wie Vampire, sondern an ihren Meinungen“. Dies ist für Kinderbücher ungewöhnlich, die oft nach einer Versöhnung, einem „Happy End“ streben. Warum gibt es die Warnung im Nachwort?
Finden Sie nicht, dass es wahr ist? Ich will mit dem Buch auch ganz bewusst auf den aktuellen Antisemitismus aufmerksam machen. Ich empfinde unsere Zeit als beunruhigend, weltweit sind antisemitische Strömungen am Erstarken. Hiervon muss man Kindern erzählen, man muss die Entwicklung öffentlich machen. Wenn wir ihnen nicht unsere Perspektive erklären, dann lernen die Kinder das Narrativ der Antisemiten kennen, ohne es als solches wahrnehmen und einordnen zu können. Jüdinnen und Juden wurden vertrieben und getötet, dahin führt Antisemitismus. Genau das muss man Kindern erzählen.
Die Figur Eli ist in Ansätzen an der Biographie Ihrer Mutter Ella, und die Figur Luli an der Biographie Ihres Onkels Viktor angelehnt. Eli und Luli kommen beide aus Siebenbürgen und führen eine außergewöhnliche innige Freundschaft. Während Luli irgendwann nach Amerika auswandert, wird Eli später ins Konzentrationslager deportiert und überlebt nur knapp. Wie kam es dazu, dass Sie letztlich nicht von einer autobiografischen Geschwisterliebe, sondern von einem Liebespaar erzählen?
Die wahre Geschichte meiner Mutter, meines Onkels und meiner Tante war viel tragischer. Ich konnte daraus keine vollständigen Erzählungen für Kinder machen, sodass ich eben auf verschiedene Erfahrungen von verschiedenen Überlebenden zurückgegriffen habe. Deshalb bezeichne ich das Buch auch als Märchen, auch wenn die Details stimmen, aber nicht die Zusammensetzung. Hier habe ich die Freiheiten genutzt, die man als Autorin beim Geschichtenerzählen besitzt.
Ist die Änderung evtl. auch als Schutzmechanismus zu verstehen, da so eine gewisse Distanz zu Ihren Figuren für Sie entsteht?
Absolut. Allerdings habe ich die Geschichte meiner Mutter und anderer Familienmitglieder auch schon erzählt, jedoch für Erwachsene. Das Buch heißt „Wenn es einen noch gibt. Ein Familienporträt“, erschienen 2015 im persona verlag. Meine Mutter weigerte sich, mit mir über ihre Zeit während des Krieges zu sprechen. Sie wollte leben und sich noch freuen können. Ich habe aber stets nachgehakt und wollte wissen, wie sie überlebt hat. Sie antwortete immer nur: „Höre auf zu fragen, ich verstehe selbst nicht, wieso es mich noch gibt“. Daher auch der Titel des Buches später. In ihrem letzten Lebensjahr fing sie dann an, über ihr Schicksal zu sprechen.
Die Zeichnungen des Buches stammen von Ihrer Tochter. Ist das ihre erste Zusammenarbeit?
Nein, unsere Zusammenarbeit führt zurück in die 1970er Jahre, als meine Tochter noch ein Kind war. Ich habe an einer Anthologie für Erstleser*innen mitgearbeitet, bei der u.a. auch Astrid Lindgren mitgewirkt hatte. Bei diesem Projekt habe ich vor allem gelernt, für Kleinkinder zu schreiben. Meine beste Schule hierfür waren meine Kinder zu Hause. Ich konnte beobachten, wie schwer es ihnen gefallen war, zu lesen. So habe ich ihre Perspektive eingenommen. Um die Kinderperspektive konsequent in diesem Buch beizubehalten, hatte ich meine Tochter die Bilder dazu malen lassen. Obgleich der Verlag zunächst skeptisch gewesen war, hatte Astrid Lindgren darauf bestanden, diese zu nutzen. Seitdem hat meine Tochter immer wieder Zeichnungen für meine Bücher entworfen.
In der Geschichte lernen die jungen Leser*innen jüdische Traditionen kennen, wie beispielsweise die Vorbereitung für den Schabbat, das Kerzenzünden oder auch die Bar-Mitzwa. Ich konnte während des Lesens die Mutter förmlich backen sehen und die Challot riechen.
Wirklich? Lacht… Wissen Sie, ich komme aus einem säkularen zu Hause bzw. meine Mutter hat nach Auschwitz mit der Religion gebrochen. Sie meinte zu mir, wie soll ich noch an G‘‘tt glauben? Dennoch hat sie jeden Freitagabend Kerzen gezündet, für die Toten. Mein Onkel und seine Frau waren nach wie vor traditionell, sodass ich alles mitbekommen habe. Vor allem der Schabbat bringt bei mir Freude hervor.
Sie schreiben abschließend: „Wenn man noch Worte hat, kann man froh sein, denn in ihnen leben die Menschen stärker weiter als in etwas Anderem.“ Was meinen Sie damit?
Irgendwann stirbt jeder und ist somit letztlich verschwunden. Das was du aber gesagt hast, lebt weiter. So wiederholte mein Vater Sprichwörter und Anekdoten meines Großvaters, die ich meinen Kindern mit auf dem Weg gegeben habe und sie nun wiederum ihren Kindern. Das ist das Wunderbare an der Sprache. Sie bleibt bestehen, sowohl mündlich als auch schriftlich. Die Worte, die Sprache sind mein Leben. Ich habe sie genutzt, um die Erlebnisse meiner Familie und die meiner Freunde weiter leben zu lassen.
Vielen Dank für das persönliche Gespräch.
Titelbild: Rose Lagercrantz © Erik Sjöström
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