Filmausschnitt Julius Meyer. November 1938 © Heiko Arendt

Was kann und was sollte in der Frankfurter Festhalle stattfinden?

Zum Konzert von Roger Waters am 28. Mai 2023
Porträt von Mirjam Wenzel
04. Mai 2023Mirjam Wenzel

Der Pink-Floyd-Mitbegründer Roger Waters hat per Eilentscheid gerichtlich durchgesetzt, dass er ein Konzert in der Frankfurter Festhalle geben kann. In diesem Blogpost gehen wir darauf ein, was an diesem Ort im Novemberpogrom 1938 passiert ist. Dass just hier ein Musiker auftritt, der Verschwörungsmythen verbreitet, judenfeindliche Symbole einsetzt und Israel das Existenzrecht abspricht, halten wir für geschichtsvergessen. Wir fordern unsere Leser:innen auf, am 28. Mai 2023 vor Ort zu protestieren. Den Träger:innen der Messe legen wir nahe, Kriterien für die zukünftige Nutzung der Festhalle festzulegen, die derartige Veranstaltungen aus historischen Gründen vor Ort unmöglich machen.

Der Novemberpogrom 1938 in der Festhalle

Gedenktafel vor der Festhalle Frankfurt
Vor der Frankfurter Festhalle erinnert diese Tafel an die mehr als 3.000 als jüdisch verfolgten Männer, die nach dem Novemberprogrom 1938 von hier aus deportiert wurden.

Im Juni 2015 wurde an der Frankfurter Festhalle eine Gedenktafel enthüllt. Ihr Text lautet:

„Vom 10. bis 13. November 1938 wurden nach der Reichspogromnacht mehr als 3000 jüdische Mitbürger aus Frankfurt und dem Rhein-Main-Gebiet in der Festhalle zusammengetrieben, festgehalten und durch Polizei, SA und SS schwer misshandelt und in Konzentrationslager verschleppt. Viele von ihnen wurden in den Folgejahren ermordet. Die Stadt Frankfurt am Main gedenkt der Opfer von Terror und Gewaltherrschaft.“

Wie man heute weiß, waren es genau 3.155 jüdische Männer – darunter Repräsentanten und Rabbiner der beiden jüdischen Gemeinden –, die im November 1938 von der Festhalle aus in die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau deportiert wurden. Die Stadt Frankfurt hatte der Geheimen Staatspolizei im Vorfeld des Pogroms angeboten, dass sie ihre Festhalle als zentrale „Sammelstelle zur Vereinfachung der Verwaltung“ wie es im Amtsdeutsch hieß, nutzen könne. Die Stadt kam auch für die Transportfahrten zwischen Messeareal und dem Südbahnhof in Sachsenhausen auf; noch Monate später stritt Oberbürgermeister Friedrich Krebs mit der Geheimen Staatspolizei über die Erstattung der Kosten.

Von der Verhaftungswelle waren Juden im Alter zwischen 18 und 60 Jahren betroffen. Es sollen aber auch wesentlich jüngere und ältere Männer unter den Verschleppten gewesen sein. Rücksichtslos, teils mit roher Gewalt wurden sie noch in der Nacht vom 9. auf den 10. November oder in den Tagen danach aus ihren Wohnungen, Häusern oder vom Arbeitsplatz geholt und in die Frankfurter Festhalle gebracht. Hier erwarteten sie Dutzende von Gestapo-, SS- und SA-Männer, um sie zu beschimpfen, zu demütigen, zu schikanieren und zu misshandeln.

Die Erinnerungen von Rabbiner Salzberger und Dr. Rudolph Geiger an das Geschehen in und vor der Festhalle

Brennende Börneplatzsynagoge Frankfurt 1938
Die Brennende Börneplatzsynagoge Frankfurt am 10. November 1938. Davor Schaulustige.

Zu den Verschleppten gehörte auch Rabbiner Georg Salzberger, der ab 1910 Rabbiner an der liberalen Hauptsynagoge und an der gerade neuerbauten Westendsynagoge war. In seinem detaillierten Bericht über den Novemberpogrom hielt er fest:

„Donnerstag, 10. November 1938, wurde ich am frühen Morgen von dem Bäcker Levi in der Börnestraße angerufen, die SA verlange von mir die Schlüssel zur Hauptsynagoge. Ich konnte nur erwidern, dass ich diese Schlüssel nicht besäße. Den langjährigen Hauswart der Westendsynagoge, Herrn Bachmann, einen frommen Katholiken, hatten die SS-Leute, wie ich nachmals hörte, halbtot geschlagen, weil er die Schlüssel zur Synagoge nicht hergeben wollte. Schlimmes ahnend, machte ich mich auf den Weg zur Hauptsynagoge und fand das altehrwürdige Gebäude in Flammen. Keine Feuerwehr wehrte dem Brande, Menschen standen ringsumher, und wer ein Wort gegen die Brandstifter wagte – es waren SA-Leute, zumeist in Zivilkleidung, wurde mit Verhaftung bedroht. Ich ging weiter nach der Friedberger Anlage. Die herrliche Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft stand in Flammen.“

Rabbiner Salzberger, der wenig später verhaftet wurde, schilderte in seinen Erinnerungen auch eine Situation an der Frankfurter Festhalle – unmittelbar vor dem Abtransport zum Südbahnhof:

„Gegen Abend kam der Befehl zum Aufbruch. Jeder von uns griff nach seinem Gepäck, das er in einem Winkel der Halle hatte verstauen müssen. Als wir in langem Zug die Halle verließen, gab ein Mann aus dem Publikum, das draußen wartete, jedem von uns heimlich eine Flasche Milch mit auf den Weg – das sollte ihm nicht vergessen werden!“

Die erzwungene Arie von Hans Erl

Zu den Demütigungen, die Rabbiner Salzberger und alle anderen Verschleppten miterleben mussten, gehörte die Nötigung des zwangsbeurlaubten Baritonsängers Hans Erl. Ein SS-Kommandant zwang ihn, aus Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ die berühmte Arie Sarastros zu singen. Dr. Rudolph Geiger, Rechtsanwalt, Notar und Enkel des Rabbiners Abraham Geiger, schilderte seiner Frau Rosy diese Szene derart eindrücklich, dass sie in ihrem Tagebuch festhielt: „Es war ein schrecklicher Tag der Angst und Furcht. Abends um 7 Uhr kam mein Mann zurück; man hatte ihn freigelassen, weil er über 65 Jahre alt war. Seine Hände zitterten. Er sagte, das Erniedrigendste wäre gewesen, wie der Mob den Gefängniswagen, in den er mit den anderen hineingepfercht worden war, mit Gejohle begleitet habe. Sie wurden aus allen Teilen der Stadt zur Festhalle gebracht und dort interniert. Kammersänger Hans Erl wurde gezwungen, die Sarasto-Arie aus Mozarts ‚Zauberflöte‘ zu singen: ‚In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht‘, daraufhin kam er frei!“

Die Festhalle als Veranstaltungsort für Konzerte

Logo der Jewrovision 2023
2023 findet erneut die Jewrovision in der Frankfurter Festhalle statt, dieses Jahr unter dem Motto "Don't stop believing".

Ungeachtet der Geschichte des Ortes im Allgemeinen und der Demütigungen qua Gesang im Besonderen entwickelte sich die Frankfurter Festhalle im postnationalsozialistischen Deutschland zu einem beliebten Veranstaltungsort für Konzerte. Beinahe jede:r internationale Pop- und Rockstar ist hier in den vergangenen Jahrzehnten aufgetreten – zumeist ohne Kenntnis der Ereignisse während des Novemberpogroms. 2019 veranstaltete der Zentralrat der Juden hier erstmals den größten jüdischen Gesang- und Tanzwettbewerb von jüdischen Jugendlichen in Deutschland, die Jewrovision unter dem Motto „Chai!“ (hebräisch: Leben) und setzte damit auch ein Zeichen jüdischer Selbstermächtigung über die Geschichte des Ortes. Am 19. Mai 2023 findet die Jewrovision erneut in der Frankfurter Festhalle statt – es werden wieder hunderte jüdische Jugendliche vor Ort sein, singen, tanzen und feiern, dass ein Teil ihrer Vorfahren die Schoa überlebt hat sie das Leben heute genießen können.

Zum geplanten Konzert von Roger Waters am 28. Mai 2023

Die bewusste Entgegensetzung, die die Jewrovision mit ihrem Gesangs- und Tanzwettbewerb jüdischer Jugendlicher an diesem historischen Ort vornimmt, wird in diesem Jahr nur neun Tage später von dem Konzert des Antisemiten Roger Waters zunichte gemacht. Der Mitbegründer von Pink Floyd ist seit Langem bekannt dafür, dass er seine Bühnenshows regelmäßig mit Verschwörungserzählungen, israelfeindlichen Sprüchen, antisemitischen Symbolen und Anspielungen auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft anreichert. Infolge des Eilentscheids des Frankfurter Verwaltungsgerichts vom 24. April darf Waters am 28. Mai 2023 nun doch in der Frankfurter Festhalle auftreten. Das Gericht beruft sich in seiner Begründung auf die in Art. 5 GG garantierte Kunstfreiheit. Es stellt fest, dass das Konzert in der Festhalle weder die Menschenwürde der 1938 in der Festhalle misshandelten, als jüdisch verfolgten Männer verletze, noch einen neuerlichen Angriff auf die Würde dieser Personen und die Erinnerungen ihrer Familien darstelle.

Nun ist die Zivilgesellschaft gefragt

Als Jüdisches Museum Frankfurt ist es unsere zentrale Aufgabe, die gewaltsam verdrängte Geschichte von Jüdinnen und Juden, die in Frankfurt gelebt und die Stadtentwicklung geprägt haben, zu erforschen, zu bewahren und fortwährend in Erinnerung zu rufen - insbesondere an den Orten der Gewalt. Wir erachten es für notwendig, fortwährend öffentlich die Frage zu stellen, wie diese Orte – die Frankfurter Festhalle, die Erinnerungsstätte an der Großmarkthalle, die ehemalige Judengasse, die ehemaligen Synagogen – heute genutzt und gestaltet werden sollten und wo die Grenzen dessen sind, was angesichts ihrer Geschichte angemessen ist. Dass ein deutsches Verwaltungsgericht eine ebensolche Grenze nicht zu formulieren bereit ist, betrachten wir als ein Symptom mangelnden Geschichtsbewusstseins.

Wenn ein historisch bewusster und angemessener Umgang mit der Gewaltgeschichte der Festhalle rechtlich nicht durchgesetzt werden kann, ist es umso wichtiger, dass die Nutzung des Ortes, an dem Juden vor 85 Jahren gedemütigt, gequält und gewaltsam verschleppt wurden, in Zukunft nicht allein kommerziellen Interessen überlassen bleibt. Wir möchten dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt als Träger:innen der Messe Frankfurt daher nahelegen, geschichtsbewusste Kriterien und einen Verhaltenskodex für zukünftige Vermietungen der Festhalle zu formulieren.

Und was bedeutet das alles für das nunmehr vom Frankfurter Verwaltungsgericht durchgesetzte Konzert von Roger Waters? Hier bleibt uns leider nichts Anderes übrig, als alle Leser:innen dieses Blogposts dazu zu ermuntern, sich dafür einzusetzen, dass geschichtsrevisionistische Parolen und judenfeindliche Symbole am 28. Mai nicht ungestört Gehör finden.

Dieser Blogartikel wurde im Team erarbeitet. Mirjam Wenzel hat ihn auf der Grundlage der historischen Recherchen von Heike Drummer geschrieben. An der Diskussion beteiligt waren Eva Atlan, Rivka Kibel, Korbinian Böck und Sara Soussan.

Kommentare

Ein für mich unglaublicher Vorgang dieses Urteil diesen Menschen trotz vorliegender Faktenlage was seine Äußerungen betrifft, in der Festhalle (!!) auftreten zulassen! Protestieren vor Ort wäre für mich ein wichtiges Zeichen. Auf geht‘s!

04.05.2023 • Brigitte Leichthammer

Toll das ihr es macht Ich werde dabei sein und mit allen Mitteln dagegen vorgehen Bitte sagt Bescheid wann wo was stattfindet VG Eldad

05.05.2023 • Eldad

Sehr geehrte Frau Wenzel, leider findet sich in Ihrem Text kein konkreter Beleg für Ihre Behauptung, dass Roger Waters Israel das Existenzrecht abspricht. Vielleicht könnten Sie dafür konkrete Belege/Zitate nachliefern? Vielen Dank. Mit freundlichen Grüßen Harald Fuchs

12.05.2023 • Harald Fuchs

@Harald Fuchs: Roger Waters hat zum Nakba-Tag 2020 eine Aufnahme veröffentlicht, in der er mit Palästinenser-Tuch und Gitarre "We shall overcome" singt und den Text wie folgt umgedichtet: "We’ll walk hand in hand. We’ll take back the land. We’ll plant our Olive trees from the Jordan river the sea". Der Slogan "from the River to the Sea" fungiert als Leitmotiv für ein palästinensisches Gemeinwesen, das sich nicht auf die seit 1967 besetzten Gebiete beschränkt, sondern das Kerngebiet Israels mit einbezieht. Nachzuhören hier: https://youtu.be/pKaZvVxMa3Q

17.05.2023 • Onlineredaktion Jüdisches Museum

Super Sache, die Veranstaltung! Danke fürs organisieren. Keine Vermietung der Messe-Festhalle an Menschenfeinde. Genau dieses Vorgehen von uns allen, die sich hier engagieren (Stadt Frankfurt, Messegesellschaft u.a.), brauchen wir auch, um bei der Frankfurter Buchmesse die rechten antisemitischen und rassistischen Verlage auf immer zu verbannen. Es darf hier kein zweierlei Maß geben. Gegen den Auftritt Roger Waters, heißt auch gegen den Auftritt rechter Buchverlage auf dem Messegelände zu sein.

24.05.2023 • Marek

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