Unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin Heike Drummer hat sich das nunmehr auch auf Deutsch vorliegende Buch "Spurensuche 1945" angesehen und für Euch rezensiert.
Das Thema ist wissenschaftlich nur rudimentär erforscht, aber immerhin sind heute bereits einige Quellen – Dokumente und Fotografien – von Emigranten jüdischer Herkunft bekannt, die im Frühjahr 1945 als Befreier, als Soldaten in Truppen der Alliierten – zumeist waren es US-amerikanische Einheiten – in das kriegszerstörte Deutsche Reich und auch nach Frankfurt am Main zurückkehrten. So sind Fotografien von jüdischen GI überliefert, die etwa in Jeeps vor den Ruinen des Rathauses Römer posieren, oder Berichte vom traumatischen Wiedersehen mit der Stadt nach Schoa und Verwüstung.
Rückkehr nach Frankfurt

Einer von ihnen war der spätere Journalist Walter Jessel (1918-2008), der 1945 als Nachrichtenoffizier der US-Army auf Zeit nach Deutschland zurückkehrte. Seine außergewöhnliche Reportage verfasste er schon 1946 in englischer Sprache. Seinen nüchternen Bericht wollte jedoch seinerzeit kein Verlag in den USA drucken. Erst 2017, nach mehr als 70 Jahren, wurde unter dem Titel "Class of ’31. A German-Jewish Émigré’s Journey across Defeated Germany" die amerikanische Ausgabe publiziert, herausgegeben von Brian C. Crim. 2020 schließlich, anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung, erschien das Buch in deutscher Übersetzung mit Anmerkungen und einem Nachwort von Margrit Frölich als "Spurensuche 1945. Ein jüdischer Emigrant befragt seine Abiturklasse". In dieser Fassung sind erstmals authentische Personennamen aufgeführt, die in der englischen Manuskriptfassung vom Autor noch anonymisiert worden waren.
Walter Jessel kam als US-Soldat zurück nach Frankfurt, um die Schüler seines Abiturjahrgangs 1931 an der Musterschule ausfindig zu machen und diese zu ihrem Leben in der Zeit des Nationalsozialismus und ihren politischen Ansichten zu befragen. Sein Interesse galt dabei ausschließlich den Nichtjuden. Von den zwölf in Frage kommenden konnte er mit sechs Männern tatsächlich sprechen; die übrigen waren tot oder vermisst. Den jüdischen Mitschülern war die Flucht aus Frankfurt gelungen, aber deren Lebensgeschichten interessierten Jessel in seinem Vorhaben weniger. Denn: "Die acht, die emigrierten, mich selbst eingeschlossen, wussten, wer der Feind war […]." (Einführung, S. 27)
Familiengeschichte Walter Jessels

Walter Jessel war in gutsituierten Verhältnissen in Frankfurt aufgewachsen. Die Familie wohnte im Reuterweg 53. Das Gebäude wurde im Krieg zerstört, wie der junge Soldat bei seinem ersten Frankfurt-Besuch im April 1945 nüchtern-gefasst feststellen musste: „Frankfurts Trümmer waren die logische äußerliche Folge des mentalen und moralischen Verfalls seiner Bewohner – eines Verfalls, dessen Anfangsstadien ich als Junge miterlebt hatte und der mich dazu gezwungen hatte, Deutschland zu verlassen.“ (S. 26)
Der Vater Julius Jessel hatte zu Beginn der 1920er Jahre Radiogeräte verkauft – eine durchaus erfolgreiche Geschäftsidee in Zeiten, als sich das moderne Medium Rundfunk gerade etablierte. Mit dieser Firma, die schon bald Filialen unterhielt, kam die Familie zu wirtschaftlichem Wohlstand. Walter Jessel besuchte die Musterschule und legte dort das Abitur ab. 1933 verließ er verfolgungsbedingt das Deutsche Reich. Zunächst lebte er in Palästina, später wanderte er in die USA aus. Das elterliche Geschäft wurde „arisiert“. Über Großbritannien gelang den Eltern und der Schwester 1939 die Flucht in die USA zu Sohn und Bruder. Ein Onkel beging aus Verzweiflung Selbstmord. Eine Tante wurde hochbetagt aus Frankfurt deportiert und in einem Konzentrationslager ermordet.
In nachrichtendienstlicher Mission für den US-Militärgeheimdienst

Wie die emigrierten Schriftsteller Klaus Mann und Stefan Heym gehörte Walter Jessel zu den "Ritchie-Boys"; diese nachrichtendienstliche Einheit benannte sich nach dem Ausbildungszentrum Camp Ritchie in Maryland. Dort waren während des Zweiten Weltkriegs viele deutschsprachige Emigranten stationiert. Sie wurden dann in Deutschland als profunde Kenner ihrer einstmaligen „Landsleute“ zu psychologischer Kriegsführung eingesetzt, für Verhöre und nach 1945 als Übersetzer etwa in Spruchkammerverfahren und den Prozessen gegen NS-Kriegsverbrecher. Am 8. Mai 1945 schrieb Jessel voller Sarkasmus an seine Mutter, die Nationalsozialisten wären nun verschwunden, „so sehr, dass niemand mehr weiß, wer überhaupt jemals ein Nazi war. Nur Feiglinge sind übrig, aber das war zu erwarten“. (Einführung, S. 24)
Sein erster nachrichtendienstlicher Einsatz galt den Technikern und Ingenieuren der V2-Raketen, die sich mit Kriegsende nach Bayern abgesetzt hatten. Die zentrale Figur war Wernher von Braun, der schon bald eine steile Karriere in den USA machen sollte. „[…] alle von ihnen reuelose Nazis, die sich ihrer Verhandlungsstärke gegenüber den Amerikanern bewusst sind“, notierte Jessel seinerzeit in sein Tagebuch, das 1996 unter dem Titel „A Travelogue through a Twentieth-Century Life. A Memoir“ erschien und für die historische Forschung aufschlussreiche Passagen auch über das militärische Geheimprojekt „Operation Paperclip“ enthält.
Musterschule Frankfurt: Auf der Suche nach der ehemaligen Abiturklasse
Bei seinem Aufenthalt in Frankfurt ab Herbst 1945 trifft Walter Jessel auf Peter Müller, einstmals Schulleiter der Musterschule, der 1938 unter Zwang aus dem Amt gedrängt worden war. Als versierter und unverdächtiger Pädagoge fungiert „PeMü“ – so sein Spitzname laut Jessel – nun als Leiter des Schulamtes und soll das ab 1933 „gleichgeschaltete“ Frankfurter Schulwesen unter demokratischen Vorzeichen neu aufbauen. Er erkennt Jessel sofort und verhilft ihm zu Namen und Adressen der früheren Mitschüler. Außerdem findet er in Gedern, wohin die Musterschule im Zweiten Weltkrieg evakuiert worden war, seinen ehemaligen Englisch- und Französischlehrer Paul Olbrich, auch nach 1933 ein mutiger Verteidiger der Weimarer Republik. Von Olbrich erhält er 1930/31 privat verfasste „charakterliche Beurteilungen“ der Schüler, die Jessel in der „Spurensuche“ eigenen persönlichen Eindrücken aus den Gesprächen jeweils voranstellt. So bewegen sich alle aufgezeichneten Begegnungen der „Spurensuche“ in einem biografischen Spannungsfeld: zwischen prüfendem Lehrerblick auf die Abiturienten und Jessels kluger Kommentierung nach Kriegsende.
Das Tagebuch deckt den Zeitraum von 1. Oktober bis 16. Dezember 1945 ab. Jedes Kapitel, in dem Walter Jessel einen der Besuche schildert, ist datiert und mit einem Zitat oder einer Paraphrase überschrieben, die zumeist von den ehemaligen Lehrern, Mitschülern oder deren Angehörigen stammen. Als Leser*in lässt sich leicht erahnen, worum es jeweils geht: Lamorjanz, Selbsthass, das Hoffen auf den „Endsieg“, Antiamerikanismus, Heuchelei vor dem Sieger, Anti- und Philosemitismus. So jammert die Schwägerin des verschollenen Klassenkameraden Fritz Kern: „Hitler hat einen furchtbaren Fehler gemacht, als er sich die Juden zum Feind gemacht hat. Sie sind eine unschlagbare Weltmacht. […] Wenn sie doch nur zurückkommen würden.“ (S. 138) Einer, Arnulf Krauth, starb als Sympathisant der Kommunisten und Widerstandskämpfer. Kurz vor Kriegsende sollte er nach Lagerhaft und Todesmarsch von der SS auf der „Thielbek“ in Richtung Fehmarn verschleppt werden. Das Schiff wurde von den Briten für einen Truppentransporter gehalten und versenkt.
Bedeutung der "Spurensuche" als Quelle der Stadtgeschichte

Jessel tritt als selbstbewusster Sieger in seiner Geburtsstadt auf, ohne zu triumphieren. Es ist die jüdische Perspektive auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, auf Gleichgültigkeit, Opportunismus, Zivilisationsbruch und Schoa, die seine Aufzeichnungen so besonders machen; auch in notwendiger Ergänzung zu lokalgeschichtlichen Texten der Nachkriegszeit, in denen Selbstmitleid vor allem wegen der Zerstörung der Frankfurter Altstadt dominiert. Die meisten nichtjüdischen Erinnerungen thematisieren eher die Bombardierung des Stadtzentrums durch die Alliierten, als die Vertreibung und Ermordung der Frankfurter Jüdinnen und Juden und damit die unwiederbringliche Zerstörung der Stadtgesellschaft. Zu selbstkritischer Analyse von Ursache und Wirkung fehlten zumeist Einsicht und Wille. Jessel hingegen ist schonungslos und qualifiziert die Ruinenstadt Frankfurt als Sinnbild für den moralischen Verfall Deutschlands.
Dass aus der „Spurensuche“ ein von der Öffentlichkeit auch wahrgenommenes Frankfurt-Buch geworden ist, verdankt sich der engagierten Übersetzung von Margrit Frölich, ihrem Nachwort und vor allem den biografischen Recherchen für den Anmerkungsapparat. Nicht nur als Schullektüre eine wertvolle Entdeckung!
Literaturauswahl
- Walter Jessel: Spurensuche 1945. Ein jüdischer Emigrant befragt seine Abiturklasse. Hrsg. und mit einer Einführung von Brian C. Crim. Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen ergänzt und einem Nachwort von Margrit Frölich, Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag 2020, 245 S. , 20 €.
- Walter Jessel: A Travelogue through a Twentieth-Century Life: A Memoir, 1996.
- Angelika Rieber: Rückkehr als Befreier. Deutsch-jüdische Emigranten in den Armeen der Alliierten. In: Jahrbuch Hochtaunuskreis 25. Jg./2017, S. 253-261.
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