Das Jugendbuch "Vor uns das Meer" von Alan Gratz wurde vielfach positiv besprochen. Das hat der Arbeitskreis Kinder- und Jugendliteratur am Jüdischen Museum zum Anlass genommen, das Buch gemeinsam zu lesen und zu diskutieren. Valentino Massoglio, Mitarbeiter in unserer Bibliothek und dem Archiv, fasst die Ergebnisse aus dem Arbeitskreis in dieser Rezension zusammen.
Der amerikanische Autor Alan Gratz erzählt in seinem Buch Vor uns das Meer die Geschichten von drei Elf- bis Zwölfjährigen, die zu unterschiedlichen Zeiten ihre Heimat verlassen müssen. Er spannt dabei einen gelungenen historischen Bogen von der Flucht deutscher Juden in den 1930er-Jahren zu den gegenwärtigen Migrationsbewegungen.
Die drei Geschichten
Josef und seine Familie werden im nationalsozialistischen Deutschland als Juden verfolgt. Im Zuge der Reichspogromnacht 1938 wird der Vater verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht. Nach sechs Monaten wird er unter der Bedingung entlassen, dass er Deutschland schnellstmöglich verlässt. Die Familie besteigt 1939 in Hamburg das Schiff St. Louis, das sie und über 900 weitere jüdische Flüchtlinge aus Deutschland nach Kuba bringen soll. Das Leben an Bord birgt für Josef, trotz der Vielzahl anderer Kinder, nur wenige Momente kindlichen Spaß und Leichtigkeit. Er wird von den vereinzelten Nationalsozialisten unter der Schiffscrew schikaniert und muss sich vor allem um seinen Vater kümmern, der von seinem KZ-Aufenthalt traumatisiert und dementsprechend psychisch äußerst labil ist. Als das Schiff endlich Kuba erreicht, dürfen die Passagiere trotz langwieriger Verhandlungen nicht von Bord gehen. Es folgt eine lange Fahrt voller Ungewissheit, die schließlich wieder in Europa endet.
Die Geschichte von Isabel und ihrer Familie ist in Kuba während der Wirtschaftskrise der 1990er-Jahre angesiedelt. Die ökonomische Perspektivlosigkeit und das repressive Regime Kubas treiben die Familie samt schwangerer Mutter zur Flucht in die USA. Gemeinsam mit ihren Nachbarn begeben sie sich in einem kleinen selbstgebauten Boot auf die lebensgefährliche Überfahrt in Richtung Miami. Dabei sind sie schutzlos den Gefahren des Meeres ausgesetzt und schaffen es nur unter größten Mühen das Festland zu erreichen. Auch Isabels Familie ist im Lauf der Geschichte mit der Unmenschlichkeit und Absurdität von Einwanderungsbestimmungen konfrontiert.
Der dritte und aktuellste Erzählstrang ist der von Mahmoud und seiner Familie. Um den Bomben und der Gewalt im syrischen Bürgerkrieg zu entkommen, begeben sie sich im Jahr 2015 auf die Flucht: von Aleppo über die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Ihre beschwerliche Reise endet keineswegs mit der schrecklichen und folgenreichen Überfahrt über das Mittelmeer. Es folgen die Etappen der Balkan-Route, auf denen ihnen habgierige Schlepper und prügelnde ungarische Polizisten begegnen, sie in improvisierten Camps übernachten und Mahmoud schließlich die ikonisch gewordenen Märsche auf der Autobahn nach Österreich mitanführt.
Die Erzählweisen
Die drei Fluchtgeschichten werden parallel und einander abwechselnd erzählt. Damit es auch für ungeübte Leser*innen übersichtlich bleibt, sind die kurzen Kapitel betitelt mit der jeweiligen Hauptperson, dem Ort und dem Jahr. Die bereits in den Erzählungen liegende Spannung wird nochmals verstärkt, indem jedes Kapitel mit einem Cliffhanger endet. Alan Gratz webt sehr geschickt geografische und historisch-politische Kontextinformationen in die Geschichten ein. Vertiefend dazu beschreibt er im Anhang die jeweiligen historisch-politischen Umstände noch genauer und erläutert, welche Teile der erfundenen Geschichten auf realen Personen oder Ereignissen basieren. Ebenso sind drei Karten mit den jeweiligen Fluchtrouten enthalten.
Das Erwachsenwerden und die Übernahme von Verantwortung sind in den Fluchtgeschichten der drei Protagonist*innen zentral. Die Eltern zeichnen sich in der Erzählung dagegen durch Passivität oder Ohnmacht aus, sie schwanken während der Flucht zwischen Überforderung und Wahnsinn. Die Protagonist*innen gewinnen damit gezwungenermaßen an Handlungsmacht und bestimmen zunehmend den Lauf der Dinge. Exemplarisch dafür steht das Bild von Mahmoud gegen Ende des Buches, wie er den "Hoffnungsmarsch" aus einer ungarischen Flüchtlingsunterkunft in Richtung österreichischer Grenze anführt.
Durch die parallele Erzählweise wird das Thema Flucht mitsamt der dabei erfahrenen Ungerechtigkeit und dem erlebten Leid als etwas Universelles dargestellt. Die einzelnen Familiengeschichten in ihrem jeweiligen historischen Hintergrund betonen hingegen die individuellen und kontextabhängigen Aspekte von Migrationsgeschichten. Damit schafft es der Autor den Leser*innen die Gemeinsamkeiten, aber auch die Vielschichtigkeit von Fluchterfahrungen näher zu bringen.
Das Fazit
Das Buch eignet sich aufgrund der kurzen Kapitel, der verschiedenen Geschichten und seiner Verknüpfung von Geschichte und Gegenwart hervorragend für den Einsatz im Schulunterricht. Stellenweise mögen die Protagonist*innen und deren Handeln etwas zu stark konstruiert und plakativ wirken – so zum Beispiel wenn die Eltern kaum mehr als handelnde Personen auftreten. Vielleicht liegt aber gerade in dieser starken jugendlichen Handlungsmacht das empowernde Moment des Buches. Josefs Geschichte und die der St. Louis waren eine krasse Ausnahme und damit wenig repräsentativ für die Zeit des Zweiten Weltkriegs; andererseits hätte ohne diesen Kontext das dramaturgische Nebeneinander der Meeresüberquerung gefehlt. Alan Gratz hat zweifellos ein gelungenes Buch über das Thema Flucht vorgelegt, das sich nicht nur spannend liest, sondern darüber hinaus auch einiges an historischem und politischem Wissen vermittelt und die Leser*innen auch zu eigenem Handeln empowert.
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