Friedrich Tietjen, James Ardinast, Arndt Emmerich und Nazim Alemdar im Jüdischen Museum Frankfurt

Blaulicht, Rotlicht, Nepp - und Toleranz?

Jüdisch-muslimische Begegnungen im Frankfurter Bahnhofsviertel
24. Februar 2025

Im Dezember 2024 sprachen wir bei der Veranstaltung „Gelebte Vielfalt“ im Jüdischen Museum Frankfurt über Jüdische und muslimische Communities im Frankfurter Bahnhofsviertel. In diesem Beitrag werfen die Teilnehmer einen Blick zurück und fassen einige Ergebnisse des Abends zusammen. Von Arndt Emmerich unter Mitwirkung von James Ardinast, Nazim Alemdar und Friedrich Tietjen.

Das Frankfurter Bahnhofsviertel ist ein Ort der Gegensätze, Ambivalenzen und Widersprüche. Oft auf seine negativen Aspekte wie Blaulicht, Rotlicht und Nepp reduziert, erzählt dieser Ort auch Geschichten von Sicherheit, Toleranz und Gemeinschaft. Das Viertel ist auch ein Ort, wo sich Kulturen und Religionen begegnen und unerwartete Allianzen entstehen.

Diesem oft übersehenen Aspekt des Bahnhofsviertels widmete sich die Veranstaltung „Gelebte Vielfalt: Jüdische und muslimische Communities im Frankfurter Bahnhofsviertel" am 19. Dezember 2024 im Jüdischen Museum Frankfurt. Als Diskussionsgrundlage dienten die Forschungen von Arndt Emmerich von der University of Hertfordshire in England, der als Kultursoziologe drei Jahre lang jüdisch-muslimische Netzwerke im Viertel erforschte. Darüber berichteten unter anderem die Frankfurter Rundschau und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Die Veranstaltung wurde von Museumsidrektorin Mirjam Wenzel eingeleitet, auf dem Podium saßen Arndt Emmerich, James Ardinast (Gründer der IMA Clique), Nazim Alemdar (Inhaber des Kult-Kiosks Yok-Yok) und Friedrich Tietjen (Kurator am Jüdischen Museum und Moderator des Abends). 

Forschung zum Verhältnis zwischen Muslimen und Juden

Blick in den Saal des Jüdischen Museums
Blick in den Saal des Jüdischen Museums bei der Veranstaltung "Gelebte Vielfalt"

Emmerich stellte zunächst seine Studie über jüdisch-muslimische Begegnungen im Bahnhofsviertel zwischen 2021 und 2023 vor. Seine Recherchen im Viertel waren Teil des europaweiten Forschungsprojekts „ENCOUNTERS“: Sechs Wissenschaftler*innen untersuchten in Frankreich, Großbritannien und Deutschland das Verhältnis zwischen Muslimen und Juden. Ausgewählt wurden Städte mit vergleichsweise großen jüdischen und muslimischen Gemeinden: London und Manchester, Paris und Straßburg, Berlin und Frankfurt. Die Forscher*innen fragten zum Beispiel: Wie interagieren Juden und Muslime in diversen Stadtgesellschaft miteinander? Wie gestaltet sich der Alltag zwischen den Religionsangehörigen? Neben demographischen Daten, der Geschichte jüdischer Geflüchteter (Displaced Persons) und muslimischer Gastarbeiter und einer neuen postmigrantischen jüdisch-muslimischen Kulturszene im Bahnhofsviertel untersuchte Emmerich auch Themen wie kulturelle und religiöse Gemeinsamkeiten sowie jüdisch-muslimische Freundschaften in der erfolgreichen Serie "Die Zweiflers", die im Bahnhofsviertel gedreht wurde.

Emmerichs Fazit: Das Bahnhofsviertel trotzt dem Trend. Während religiöse Identitäten in bundesweiten Debatten an Bedeutung gewonnen haben und insbesondere zwischen Juden und Muslimen seit dem 7. Oktober 2023 als politisch und sozial trennend wahrgenommen werden, zeigt die Forschung im Bahnhofsviertel, dass Religion nicht immer der dominante Bezugspunkt für die Zuschreibung von Jüdischsein oder Muslimischsein ist. Lokale Themen sind im Alltag oft wichtiger, während Religion an sich - entgegen der allgemeinen Erwartung - relativ weiche Grenzen zwischen den beiden Gemeinschaften und eine positive Praxis des Zusammenlebens geschaffen hat. Im Rahmen der Veranstaltung konnten dank der Beiträge von Bahnhofsviertel-Insidern wie Ardinast und Alemdar neue Erkenntnisse über die Geschichte und diese gemeinsame Praxis gewonnen werden.

Das Frankfurter Bahnhofsviertel als Ort des Ankommens

Screenshot aus der App "Unsichtbare Orte" des Jüdischen Museums Frankfurt
Screenshot aus der App "Unsichtbare Orte" des Jüdischen Museums Frankfurt. Darin finden sich auch zahlreiche Geschichten zum Frankfurter Bahnhofsviertel

In der Podiumsdiskussion beleuchteten die Teilnehmer, warum das Bahnhofsviertel ein wichtiger Ankunftsort für Juden*innen und Muslime war. Für Juden*innen war es ein Ort des Neuanfangs nach dem Holocaust, wie auch die kürzlich erschienene ZDF-Dokumentation "Le Chaim - Auf das Leben unserer Eltern" zeigt, an der Ardinast mitgewirkt hat.

Wie der im Bahnhofsviertel aufgewachsene Schriftsteller Michel Bergmann in seinem 2011 erschienenen autobiografischen Roman Machloikes ausführlich beschreibt, konnten sich Juden*innen unmittelbar nach dem Ende von Krieg und Nationalsozialismus hier relativ sicher fühlen, und fanden ein teils auch jiddischsprachiges Umfeld vor. Als Ort des Übergangs, der kurzen Aufenthalte von Reisenden war es internationaler geprägt als andere Viertel der Stadt. Und gerade das machte es auch attraktiv für die Soldaten der Siegermächte – kein Ort also, an dem die zahlreichen Altnazis und Antisemit:innen offen auftreten würden. Diese sogenannte "Arrival Infrastructure" des Viertels, also die vorhandenen Strukturen, sozialen und religiösen Angebote und ethnischen Ökonomien, halfen den Neuankömmlingen und erklären die zahlreichen Migrationswellen sowohl von Juden*innen als auch von muslimischen Gastarbeitern*innen, die das Viertel seit den späten 1960er Jahren gemeinsam prägten. Wie die Museums-App Unsichtbare Orte zeigt,  war Ende der 1970er Jahre der City-Basar, auch Klein-Istanbul am Main genannt, in der Elbestraße mit seiner Moschee im Erdgeschoss ein beliebter Treffpunkt für Muslime. Dank Alemdar erfuhr das Publikum von seinen persönlichen Erlebnissen im "City Bazaar".  Er erinnerte sich an den jüdischen Kaufmann Ulrich und seinen Vater, die aus einem Möbelgeschäft eine Passage mit 27 Geschäften machten. Alemdar betrieb dort eine Videothek und erzählte von einer freundschaftlichen Zusammenarbeit mit den jüdischen Geschäftsleuten. Mit dem neuen Besitzer, "einem richtigen Deutschen", wurde das Zusammenleben im City Basar schwieriger.

Die gute Zusammenarbeit mit den beiden jüdischen Geschäftsleuten basierte, so Alemdar, auf einem seit langem gewachsenen Gefühl einer gemeinsamen Minderheitserfahrung: Juden und Muslime erlebten Diskriminierung und fanden Halt in der gemeinsamen Zusammenarbeit. Emmerichs Forschung konnte auch zeigen, dass diese gewachsenen jüdisch-muslimischen Netzwerke im Bahnhofsviertel von einem tiefen Gefühl gegenseitigen Vertrauens, Respekts und Lernens geprägt waren, und das zu einer Zeit, als der Wohlfahrtsstaat und das Schulsystem noch weniger auf die Bedürfnisse von Minderheiten und Migranten eingingen.

Mehrsprachigkeit und Toleranz im familiären Umfeld

Alemdar verband seine Erfahrungen im Bahnhofsviertel mit seiner multiethnischen und multireligiösen Kindheit in Istanbul, wo er gemeinsam mit jüdischen Mitschüler*innen das Gymnasium besuchte und bei jüdischen Familien übernachtete. Diese Praxis, so hatte Emmerich in seiner Studie belegen können, setzte sich auch im Bahnhofsviertel fort. So berichteten ihm jüdischen Gesprächspartner*innen, dass sie in den Moscheen des Bahnhofsviertels Tee tranken, Gespräche in türkischen Friseursalons führten, mit muslimischen Freunden die Synagoge besuchten, mit muslimischen Jugendlichen Tischtennis spielten und zu Hochzeiten und Geburtstagen eingeladen wurden. Alemdars Kinder sprechen mehrere Sprachen und wachsen in einem multireligiösen familiären Umfeld auf, wie es für Frankfurt typisch ist. Emmerich sprach auch mit anderen Muslimen, die für jüdische Familienbetriebe im Bahnhofsviertel gearbeitet haben, wo sie Jiddisch lernten. Bald gab es im Bahnhofsviertel einige „jiddisch sprechende Muslime“. Jüdische Geschäftsleute lernten währenddessen etwas Türkisch und Arabisch.

Diese Offenheit, die Sprache und die sozialen Gepflogenheiten des "Anderen" zu lernen, hat auch etwas mit der Ablehnung von Schubladendenken im Bahnhofsviertel zu tun: "Es gibt gute und schlechte Menschen, egal welcher Religion sie angehören", betont Alemdar. "Für Geschäftsleute ist es egal, ob du Jude oder Muslim bist", sagt Aldemar. „Wichtig ist nur, dass du gute Geschäfte machst." Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in Emmerichs Forschung wider, denn die Vielfalt des Viertels verwischt nationale, kulturelle und religiöse Grenzen und führt zu einer Rückbesinnung auf lokale Themen und Gemeinsamkeiten.

Nach dem 7. Oktober 2023

Friedrich Tietjen, James Ardinast, Arndt Emmerich und Nazim Alemdar im Jüdischen Museum Frankfurt
Friedrich Tietjen, James Ardinast, Arndt Emmerich und Nazim Alemdar auf dem Podium bei unserer Veranstaltung "Gelebte Vielfalt".

Das Bahnhofsviertel zeichnet sich dadurch aus, dass diese Erkenntnis auch nach dem 7. Oktober 2023 weiterhin Gültigkeit besitzt. Ardinast berichtet, dass die Bar Shuka in der Niddastraße auch nach dem Überfall der Hamas auf Israel ohne Sicherheitsdienst auskommt – fast unglaublich in einer Zeit, in der jüdische Eltern ihre Kinder aus Angst um ihre Sicherheit nicht mehr in die Schule oder ins Gemeindezentrum schicken. Zunächst hatten Ardinast und sein Bruder überlegt, nicht mehr zu öffnen, auch um den Schutz der Belegschaft, darunter viele Muslime, nicht zu gefährden. Doch Bekannte, Freunde und Geschäftspartner gaben ihnen schnell das Gefühl: "Im Bahnhofsviertel seid ihr sicher.“ Gleichzeitig organisierte Ardinast auch nach dem 7. Oktober zusammen mit dem Jüdischen Museum (das für ihn ebenfalls Teil des Bahnhofsviertels ist) ein Konzert mit Mirachi-Juden aus Ländern wie dem Jemen, Irak und Iran, die ihre hybride Identität ausleben: "Eine wunderbare Veranstaltung, die Menschen zusammenbringt".

Hat also der besondere Charakter des Bahnhofsviertels mit seinem Grundkonsens, der "Vielfalt in all ihren Formen", zu einer besonderen interreligiösen Solidarität zwischen Muslimen und Juden*innen geführt? In Emmerichs Studie beschreiben seine muslimischen Interviewpartner die jüdischen Geschäfte in der Münchener Straße als „sichere Häfen“ ihrer Kindheit, in denen sie Hausaufgaben machen und in die Frankfurter Geschäftswelt eintauchen konnten. Noch heute empfängt ein jüdischer Geschäftsmann in der Münchener Straße täglich muslimische Freunde zum Tee, die ihn und seine Familie immer beschützen würden.

Jüdisch-muslimische Kunst im Bahnhofsviertel.

Foto von Max Weinberg
Der Frankfurter Künstler Max Weinberg (1928-2018). Quelle: Wikipedia, Foto: HV CC_BY_SA

Anschließend erzählt Alemdar den Anwesenden, wie er nach über dreißig Jahren in der Münchner Straße auf die Idee kam, im YokYok Kunst auszustellen und kurzerhand das Hinterzimmer seines Ladens zum Ausstellungsraum umfunktionierte. Die erste Ausstellung widmete sich dem jüdischen Leben in Istanbul. 2018 kam der berühmte jüdische Maler Max Weinberg zu Alemdar und fragte: "Bist du der Chef? Kann ich hier eine Ausstellung machen?" Er zeigte ihm ein Bildband und blieb bis drei Uhr morgens im YokYok, um mit den Jugendlichen zu sprechen.

Weinberg und Alemdar freundeten sich an, Alemdar erfuhr viel über Weinbergs Biografie, dass seine Eltern im KZ ermordet wurden oder dass Weinberg nach Israel ging und als Soldat den Umgang mit Palästinensern kritisierte, wofür er ins Gefängnis kam. In seiner Freundschaft zu Weinberg zeigte Aledmar auf einfühlsame Weise, wie beeindruckt er von der Haltung des Künstlers war, mehr Menschlichkeit zu zeigen und zu verzeihen: "Er hatte nie Hass in sich - bis zu seinem letzten Atemzug". Heute werden Spannungen zwischen Muslimen und Juden in Deutschland oft auf mangelndes Wissen und Einfühlungsvermögen in Bezug auf den Holocaust zurückgeführt. Alemdars Schilderungen und Emmerichs Recherchen im Bahnhofsviertel zeigten jedoch, dass Muslime KZ-Überlebende, deren Kinder und Familiengeschichten persönlich kannten und mit ihnen über Jahrzehnte in engem Kontakt standen.

Geschichten von Koexistenz, Kooperation und Ambiguitätstoleranz

Die Fähigkeit, mit Widersprüchen und Ambivalenzen umzugehen, ist eine wichtige Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft. Im Bahnhofsviertel leben die unterschiedlichsten Gemeinschaften, und die jüdisch-muslimischen Beziehungen zeigen, dass sie auch miteinander in Kontakt treten und voneinander profitieren können.

Ardinast beschreibt es so: „Durch das Zusammenleben auf engem Raum haben wir gelernt, unsere Nasen nicht in fremde Angelegenheiten zu stecken - das harmonisiert, sonst ist die Nase gleich ab“. Bei der Eröffnung seines jüdischen Pastrami-Sandwichladens Maxi Eisen, über den die New York Times berichtete, kamen viele Muslime und fragten, ob es hier auch koscheres Essen gäbe, was für Muslime in Ordnung sei. Es war nicht koscher und es gab nie Probleme, obwohl die Moschee gleich gegenüber konservativ und auch ein bisschen politisch ist. Aldemar stimmt zu. „Ja, klar - im Bahnhofsviertel mischt sich alles. Während die muslimischen Eltern in der Moschee gebetet haben, sind die Jugendlichen ins Maxi Eisen gegangen, haben auf ihre Smartphones geschaut und Kaffee getrunken.“

Insgesamt zeigte die Veranstaltung, dass die Geschichte der jüdisch-muslimischen Beziehungen im Frankfurter Bahnhofsviertel eine Geschichte des Miteinanders ist. Trotz unterschiedlicher Herkunft und Religion haben Juden und Muslime im Laufe der Jahrzehnte Umgangsformen entwickelt, die von Toleranz, Respekt und gegenseitiger Unterstützung geprägt sind. In diesem Sinne fand Ardinast auch die passenden Schlussworte, bevor die Zuhörer*innen nach Hause oder zu Tee und Fleischspießen in die Münchener Straße gingen: „Das Zusammenleben im Bahnhofsviertel funktioniert - mit allen Herausforderungen und gerade jetzt mit allem, was im Nahen Osten passiert. Im Bahnhofsviertel gilt: Wir sind alle erst einmal Menschen, egal woher wir kommen. In Zukunft wird unsere Stadtgesellschaft noch vielfältiger werden und deshalb kommen alle, die wissen wollen, wie das geht, doch bitte zu uns ins Bahnhofsviertel“.

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