Unsere Kuratorin für Zeitgeschichte Heike Drummer wirft in diesem Beitrag einen Blick auf die Befreiung Frankfurts vor 80 Jahren und speziell die Erfahrungen jüdischer GI.

Heute vor 80 Jahren, am 26. März 1945, überquerten US-amerikanische Truppen von Süden kommend den Main und erreichten die Frankfurter Innenstadt. Trotz heftiger physischer und propagandistischer Gegenwehr der selbst so deklarierten „Frontstadt“ war die Main-Metropole oder genauer das, was nach zwölf Jahren Nationalsozialismus von ihr übriggeblieben war, nach drei Tagen und fünf Wochen vor der offiziellen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 befreit.
Jüdische Überlebende und Rückkehrer in Frankfurt

Einige wenige als jüdisch verfolgte Personen, enthumanisiert und von jeglicher Versorgung abgeschnitten, hatten in „Gettohäusern“ oder im Versteck überlebt – trotz politischer Willkür und Verfolgung, Ausplünderung, sozialer Gleichgültigkeit, Deportationen, gezieltem Aushungern und Bombenangriffen. Die exakte Zahl ist nicht bekannt, sie schwankt zwischen 100 und 200 Frauen, Männern und Kindern.
Etliche Emigrant:innen jüdischer Herkunft kehrten ab dem Frühjahr 1945 als Soldaten und Befreier in das kriegszerstörte Deutsche Reich und auch nach Frankfurt am Main zurück. Aufgrund ihrer Deutsch- und Ortskenntnisse waren sie vor allem für US-Amerikaner und Briten wertvolle Kräfte, die als Verfolgte zudem politisch unbelastet waren. Überlieferte Berichte zeugen vom traumatischen Wiedersehen mit der Stadt nach Schoa und Verwüstung.
Viele dieser Soldaten waren nach dem Novemberpogrom 1938 mit der Kinderemigration vor allem in die USA und nach Großbritannien gerettet worden und erfuhren jetzt, dass ihre Angehörigen, Freundinnen und Freunde deportiert und ermordet worden waren. Häuser und Wohnungen der Eltern, Schulen und religiöse Einrichtungen lagen in Trümmern oder waren dem Erdboden gleichgemacht. Begegnungen mit nichtjüdischen Einheimischen gestalteten sich extrem problematisch. Wem war hier noch zu trauen?
Zeugenschaft

Walter H. Rothschild (1912-1956), in Frankfurt am Main geboren und 1936 in die USA emigriert, kam 1945 als jüdischer Offizier der US-Armee nach Deutschland und besuchte wenige Tage nach der Befreiung und ein zweites Mal im Sommer 1945 seine ehemalige Heimatstadt. In seinem „collective letter“ vom Juli schrieb er: „Es ist schrecklich, besonders in Frankfurt.“
Walter H. Rothschild, 1945„Seht Ihr, nun, nach drei Monaten der Besatzung, ist diese Stadt toter als jemals. Sie ist die einzige in Deutschland, die ich gesehen habe, wo es beinahe so scheint, als ob das Leben und ihre Seele irreparabel zerstört seien.“
Der spätere Journalist Walter Jessel (1918-2008) kehrte 1945 als Nachrichtenoffizier der US-Army auf Zeit nach Deutschland zurück. Jessel trat als selbstbewusster Sieger in seiner Geburtsstadt Frankfurt auf. Es ist die jüdische Perspektive auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, auf Gleichgültigkeit, Opportunismus, Zivilisationsbruch und Schoa, die seine Aufzeichnungen so besonders machen – auch in notwendiger Ergänzung zu lokalgeschichtlichen Texten der Nachkriegszeit, in denen Selbstmitleid vor allem um die Zerstörung der Frankfurter Altstadt dominiert. Jessel qualifizierte die Ruinenstadt Frankfurt schonungslos als Sinnbild für den moralischen Verfall Deutschlands.

Lee Edwards (Liesel Carlebach, *1923) war im März 1939 die Flucht mit einem „Kindertransport“ nach England geglückt. Ein jüdisches Ehepaar aus Coventry hatte die Jugendliche zunächst bei sich aufgenommen. Liesel Carlebach ließ sich in Stenografie ausbilden und nahm Französischunterricht. Als die Alliierten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs politisch unbelastete und deutschsprachige Emigrantinnen und Emigranten suchten, meldete sie sich bei der US-Army und begann mit einer Tätigkeit als Zivilangestellte im „Office of Military Government USA“ (OMGUS) in Esslingen. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann Arnold James Edwards kennen – ebenfalls ein Emigrant. Beide heirateten 1947 in Frankfurt am Main, wo Liesel Carlebach zuletzt auch gearbeitet hatte. Ab 1952 lebte das Ehepaar Edwards in den USA.
Lee Edwards„Es war dasselbe Standesamt, das einst meine Geburt registriert hatte.“
Kaum dauerhafte Perspektiven
Zwischen US-amerikanischen und als jüdisch verfolgten Frauen und Männern, die in der Stadt überlebt hatten, entstanden zuweilen engere Kontakte. So waren es jüdische GI, die schon 1945 erste Predigten zelebrierten, etwa in Bad Nauheim und Frankfurt am Main. 1954 errichteten US-Amerikaner auf dem ehemaligen IG Farben-Gelände die „Chapel“; das multireligiöse Gotteshaus nutzten neben Angehörigen der christlichen Konfessionen auch Mitglieder der jüdischen Militärgemeinde sowie Jüdinnen und Juden aus der Zivilbevölkerung.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren indes Judenhass, Gleichgültigkeit und Opportunismus innerhalb der nichtjüdischen Bevölkerung weder bearbeitet noch verschwunden. Die Gerichtsprozesse der frühen Nachkriegszeit, allen voran die Nürnberger Prozesse, verhandelten die Schoa und machten Gräueltaten bekannter; die meisten Täter:innen wurden aber nicht gerichtlich belangt. Schon sehr bald begann der „Kalte Krieg“ und das politische Interesse westlicher Alliierter verlagerte sich nach Osten. Dies alles und die traumatische Erfahrungen führten dazu, dass kaum eine Soldatin oder ein Soldat jüdischer Herkunft nach 1945 dauerhaft in Frankfurt am Main und in Deutschland geblieben ist.
Literaturauswahl
- https://www.juedisches-leben-frankfurt.de/home/biographien-und-begegnungen/biographien-a-f/lee-edwards-geb-carlebach/
- Sylvia Asmus/Jessica Beebone (Hrsg.): Kinderemigration aus Frankfurt am Main. Geschichten der Rettung, des Verlusts und der Erinnerung, Göttingen 2021.
- Renate Hebauf: „Du wirst nach Amerika gehen“. Flucht und Rettung unbegleiteter jüdischer Kinder aus Frankfurt am Main in die USA zwischen 1934 und 1945, Frankfurt am Main 2022.
- Sabine Hock: Frankfurt am Main zur Stunde Null 1945. Zwei Briefe von Walter H. Rothschild, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 63 (1997), S. 535-566.
- Walter Jessel: Spurensuche 1945. Ein jüdischer Emigrant befragt seine Abiturklasse, hrsg. und mit einer Einführung von Brian C. Crim, aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen ergänzt und einem Nachwort von Margrit Frölich, Frankfurt am Main 2020.
- Gottfried Kößler, Angelika Rieber, Feli Gürsching (Hrsg.): „... daß wir nicht erwünscht waren“. Novemberpogrom 1938 in Frankfurt am Main. Berichte und Dokumente, Frankfurt am Main 1993.
- Helga Krohn: Vor den Nazis gerettet. Eine Hilfsaktion für Frankfurter Kinder 1939/40, Sigmaringen 1995.
- Angelika Rieber/Till Lieberz-Groß (Hrsg.): „Rettet wenigstens die Kinder.“ Kindertransporte aus Frankfurt am Main – Lebenswege von geretteten Kindern, Frankfurt am Main 2018.
- Angelika Rieber: Rückkehr als Befreier. Deutsch-jüdische Emigranten in den Armeen der Alliierten, in: Jahrbuch Hochtaunuskreis, 25 (2017), S. 253-261.
Dokumentation
- https://www.3sat.de/dokumentation/geschichte/auf-wiedersehen-mama-auf-wiedersehen-papa-100.html [u.a. Lebensgeschichten österreichischer Emigrant:innen und Eintritt in die Royal Air Force]
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