Prof. Dr. Mirjam WenzelMuseumsarbeit ist Arbeit an dem Gedächtnis von morgen
Der Geschichtsverlauf, „wie er sich unter dem Begriff der Katastrophe darstellt,“ schreibt Walter Benjamin unter dem Eindruck des Novemberpogroms 1938, „kann den Denkenden eigentlich nicht mehr in Anspruch nehmen als das Kaleidoskop in der Kinderhand, dem bei jeder Drehung alles Geordnete zu neuer Ordnung zusammenstürzt“. Dennoch sollen sich denkende Menschen seinem Aphorismus „Der Zentralpark“ zufolge nicht an die Spiegel halten, mit denen das Kaleidoskop immer wieder neu geordnete Bilder produziert. Denn wer die Geschichte verstehen will, darf sich laut Benjamin nicht mit den farbenfrohen Spiegelbildern begnügen, als welche die Katastrophe all jenen erscheint, die das Kaleidoskop auf sie richten. Nur diejenigen, die sich nicht von den Spiegelbildern täuschen lassen, können den Geschichtsverlauf angesichts der Katastrophe verändern. Das Kaleidoskop selbst, so seine apodiktische Forderung, muss zerschlagen werden.
Ist die Forderung von Walter Benjamin nach einem Denken jenseits von bildlichen Illusionen angesichts des epochalen Umbruchs, der sich gerade vollzieht, noch immer aktuell? Können wir das Ende der Weltordnung, die nach der Schoa und dem zweiten weltumspannenden Krieg entstand, nur dann verstehen und seinen katastrophalen Folgen entgegenwirken, wenn wir uns der Spiegel entledigen, mit denen insbesondere die Sozialen Medien unsere Wahrnehmung von Welt prägen? Was bedeutet Benjamins Skeptizismus gegenüber dem Bild für Museen, die unser Gedächtnis in Bildern sammeln und prägen? Und was für Jüdische Museen, die nicht aus den Spiegelkabinetten der Königshäuser oder – wie die meisten großen Museen Europas – aus dem nationalen Selbstbespiegelungswillen der Mächtigen im 19. Jahrhundert erwachsen sind, sondern aus dessen Gegenteil: der Verantwortung angesichts der monströsen Gewalt, mit der die Kultur von Jüdinnen und Juden aus Europa verbannt, zerschlagen und zerstört werden sollte?
Als Literaturwissenschaftlerin habe ich mich mein denkendes Leben lang mit den Texten jüdischer Intellektueller beschäftigt, die eine Zeitlang in Frankfurt gelebt und eine Denkschule geprägt haben, die nach dieser Stadt benannt ist. Ich staune immer wieder über die Brisanz, die den Gesellschaftsanalysen von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Hannah Arendt oder auch Siegfried Kracauer innewohnen und frage mich: Erleben wir derzeit erneut eben jene gewaltvolle „Dialektik der Aufklärung“, jenen Rückfall in die Barbarei, den Horkheimer / Adorno in ihrem epochemachenden Buch angesichts des Zweiten Weltkriegs beschrieben haben? Ihre gesellschaftlichen Diagnosen bezogen sich damals unter anderem auf den eliminatorischen Antisemitismus, der in Auschwitz kulminierte. Haben sie angesichts des Wiederauflebens von Judenhass für die Gegenwart eine besondere Relevanz?
Vor eineinhalb Jahren erlebten Jüdinnen und Juden weltweit, wie die Spiegel, die es ihnen nach der Schoa ermöglicht hatten, erneut in die Welt zu vertrauen, brutal zerschlagen wurden. Am 7. Oktober 2023 erwies sich Israel nicht als der sichere Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger im Süden vor dem minutiös geplanten Angriff mordlustiger Horden beschützen konnte, als den ihn die meisten Jüdinnen und Juden in Europa wahrnehmen. In den Folgewochen explodierte überall in der Welt die judenfeindliche Gewalt in Worten und Taten. Vielen, insbesondere jüngeren Jüdinnen und Juden ist seither das Vertrauen abhanden gekommen, in der Diaspora ein sicheres und zugleich selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Das Schwinden des alltäglichen Sicherheitsgefühls hat Folgen – auch und gerade heute, am Jom HaShoah, dem israelischen Gedenktag an die Schoa, der in der jüdischen Empfindungswelt seit dem 7. Oktober zu einem jüdischen Gedenktag geworden ist. Andreas Scholl und Tamar Halperin sind auf diesen Verlust des Vertrauens in eine sichere und klar konturierte Umgebung heute in ihrem ersten Stück „The Rest“ von Ari Frankel nachgegangen, das ihr Album „Twilight People“ eröffnet.
Seit geraumer Zeit erleben wir unsere gegenwärtige Welt in einer Art Dämmerung, die für die einen das Ende, die anderen den Beginn von etwas Neuem ankündigt und für alle gleichermaßen zwielichtig ist. Für den Komponisten Ari Frankel indessen steht das Stück in einem klaren Zusammenhang. Es wurde vom Leben und Werk des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi inspiriert und thematisiert die Überscheidungen von Wahrheit und Menschlichkeit. Auch die anderen beiden Musikstücke, die heute bereits zu hören waren, kreisen nicht um die Spiegelbilder, die der Blick auf die Katastrophe durch das Kaleidoskop eröffnet, sondern um die Gemeinsamkeiten zwischen den Werten und Traditionen, die wir miteinander teilen: „In Stiller Nacht“ überblendet ein Stück von Johannes Brahms mit einer Komposition von Idan Raichel, das Al Na Telech von Shlomo Gronich überschreibt das Präludium für Klavier von Johann Sebastian Bach. Beide Stücke sind Fortschreibungen klassischer sowie romantischer Musik durch israelische Komponisten, also ein Ergebnis deutsch-jüdischer Beziehungskultur – und eben dies führt uns weg von der Katastrophe hin zu der heutigen Veranstaltung und unserer Museumsarbeit.
Vor Kurzem haben wir die Kabinettausstellung „Der zerbrochene Spiegel“ mit Werken von Léo Maillet eröffnet. Der Titel greift Benjamins Aphorismus von den Spiegeln des Kaleidoskops auf, die zerbrechen müssen, um die Katastrophe wahrnehmen zu können, und entwickelt ihn weiter. Léo Maillet war ein Meisterschüler von Max Beckmann an der Frankfurter Städelschule zu Beginn der 1930er Jahre, der nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mehrfach fliehen musste und dessen Werk vielfach zerstört wurde, bevor die Fragmente, die er retten konnte, in Vergessenheit gerieten. Er überlebte die Schoa aufgrund eines waghalsigen Sprungs aus dem Zug, der ihn nach Auschwitz deportieren sollte. Kurz bevor er aus einem seiner letzten Verstecke in Südfrankreich floh, zerbrach dem Künstler der Rasierspiegel. Er interpretierte dessen Zersplittern jedoch nicht im Sinne Benjamins als einen Spiegel für die Katastrophe seiner Zeit, sondern als eine Möglichkeit, etwas Neues zu schaffen: Mit wenigen Strichen skizzierte er sein Gesicht in den Spiegelscherben. Jahre später setzte er diese Zeichnung in eine Radierung um, die sich nun in der Sammlung des Jüdischen Museums befindet.
Unsere Museumsarbeit basiert auf Léo Maillets Haltung und Zuversicht: Wir wissen um die Fragilität dessen, was wir sammeln und bewahren, um die Brüche und Risse in den Spiegeln, die die Welt von Jüdinnen und Juden in Geschichte und Gegenwart wiedergeben und zugleich verstellen. Insbesondere aber wissen wir, dass wir als sammelnde, bewahrende und vermittelnde Kulturschaffende das Kaleidoskop nicht alleine auf den Geschichtsverlauf richten, sondern diesen gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen, unseren Leihgeberinnen und Leihgebern, unseren Unterstützern und unserer Community fortwährend befragen, kommentieren und reflektieren.
Und eben darin unterscheidet sich unsere Museumsarbeit von dem Denken Walter Benjamins: Im Zentrum unseres Handelns steht nicht die Welt des Einzelnen, sondern das Erleben von Welt in dem Beziehungsgeflecht zwischen verschiedenen Menschen und mithin die Frage: Wie müssen diese Beziehungen beschaffen sein, damit die Welt morgen noch Bestand hat? Museumsarbeit ist Arbeit an dem Gedächtnis von morgen. Angesichts der gegenwärtigen Polykrise, in der sich inmitten von Klimawandel, digitaler Revolution und geopolitischen Interessen autoritärer Herrscher eine neue Katastrophe abzeichnet, kann und darf Museumsarbeit nicht von einer Melancholie heimgesucht werden, die ohnehin nicht dem Repertoire der jüdischen Geschichte angehört.
Das Jüdische Museum hält sich daher an die Kreativität von Leo Maillet: Wir verstehen die Vergangenheit selbst als einen zerbrochenen Spiegel der Zukunft, die wir mit unserer Arbeit mitgestalten möchten. Eben darum betonen wir nicht nur die Aktualität der jüdischen Erfahrung von Diskriminierung und Gewalt wie auch des Ringens um Gleichberechtigung und soziale Teilhabe, sondern auch den zukunftsgestaltenden Charakter der Beziehungen zwischen Menschen, die im Zentrum unserer Museumsarbeit stehen.
Als ich vor genau 10 Jahren die ersten Gespräche mit dem Frankfurter Kulturdezernat über eine mögliche Übernahme der Direktion dieses Museums führte, ahnte ich nicht, wie schnell und wie fundamental sich unsere Gegenwart ändern würden – eines aber war mir schon damals bewusst: Es ist eine große Verantwortung, das älteste kommunale Jüdische Museum in Deutschland zu leiten und ein noch viel größeres Glück, es grundlegend neu gestalten zu dürfen. Ich habe beides, die Verantwortung und das Glück in den letzten 10 Jahren in erster Linie als die gesellschaftspolitische Aufgabe verstanden, gemeinsam mit meinen wunderbaren Kolleginnen und Kollegen das zwischenmenschliche Beziehungsgeflecht zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in Deutschland und Europa aktiv zu gestalten, die Gewaltgeschichte transparent zu machen, die in diesem Geflecht nachwirkt und entsprechend reflektierte Perspektiven auf die polarisierten Debatten unserer Gegenwart zu entwickeln.
Denn viele dieser Debatten ragen in das Diskursfeld Jüdischer Museen hinein – wie etwa die Frage, inwieweit Flucht und Migration, die Bestandteil der jüdischen Erfahrung sind, eine breitere gesellschaftliche Realität darstellen und als eben diese auch nationale Selbstverständnisse prägen sollten? Oder die Frage, welche Verantwortung die deutsche Gesellschaft 80 Jahre nach Kriegsende angesichts der Präzedenzlosigkeit der Schoa hat, wie die Schoa zukunftsweisend erinnert und ins Verhältnis zu anderen Genoziden, etwa zu dem Massenmord an den Armeniern, der heute vor 150 Jahren begann, gesetzt werden kann? Und last but not least, was wir tun können, um dem um sich greifenden Hass und der Hetze gegen Jüdinnen, Juden, Migrantinnen und Migranten entgegen zu treten?
Jüdische Museen, so das Credo unserer Arbeit, sind in erster Linie soziale Orte, an denen wir uns über die Verfasstheit unserer gegenwärtigen Gesellschaft verständigen, um eine Zukunft zu antizipieren, in der die Spiegel unserer Welt nicht alle zerbrochen und unvereinbar geworden sind. Unser Kaleidoskop richtet sich dabei nicht allein auf die Katastrophe des 20. Jahrhunderts, sondern auch auf die zerbrechlichen Konstellationen eines möglichen zukünftigen Zusammenlebens, in dem wir einander Angst- und gewaltfrei begegnen und uns – trotz aller Verschiedenheiten – weiterhin verstehen können.
Eben diese Verständigung im digitalen wie im sozialen Raum gestalten zu dürfen, bedeutet auch, beständig den Puls unserer gereizten Zeit zu spüren, über diesen nachzudenken und ihn in eine zukunftsfähige Frequenz zu überführen. Das rabbinische Prinzip „Mipnei Tikkun ha-Olam“ aus dem aramäischen Mischnatraktat Gittin des Talmud Jerushalmi, bietet uns dabei eine mögliche Orientierung an. Es richtet „im Interesse der öffentlichen Ordnung“, so die wörtliche Übersetzung, unseren Blick nicht nur auf den titelgebenden „Get“, die Scheidung, sondern auf den gesellschaftlichen Wandel insgesamt. Im weiteren Verlauf der jüdischen Kulturgeschichte wurde die Orientierung daran, was im Interesse der öffentlichen Ordnung sei, um die kabbalistische Deutung von „Tikkun“, dem hebräischen Begriff für Heilung, ergänzt. Demzufolge bedeutet „Tikkun ha-Olam“ heute, dass unsere Welt in tausend Spiegelfragmente zerbrochen ist, und es unser aller Aufgabe ist, diese Fragmente nicht nur einzusammeln, sondern mit unserem Handeln die Welt und ihre Spiegelungen selbst zu verbessern.
Ich danke Ihnen, lieber Herr Ministerpräsident Rhein, für Ihre berührenden und anerkennenden Worte, die mir sehr gut getan haben, und für Ihre Unterstützung des Handelns unseres Museums, die weit über den heutigen Tag hinausweist. Ihr beherzter Einsatz für die Erinnerung an die Schoa sowie für jüdische Kultur in Geschichte und Gegenwart sind nicht nur für unser Museum, sondern für viele Einrichtungen im Land Hessen von großer Wichtigkeit.
Ebenso dankbar bin ich Dir, liebe Katarzyna Wielga-Skolimowska, dafür, dass Du es auf Dich genommen hast, nach Frankfurt zu reisen, um mich zu würdigen und die Bedeutung unserer Museumsarbeit angesichts der Herausforderungen darzulegen, vor denen Kulturinstitutionen heute stehen. Ich danke Dir für unsere Gespräche, Deine Gedanken und klugen Worte. Bedanken möchte ich mich auch bei den Hessischen Kulturpreisträgern des Jahres 2016, bei der Pianistin Tamar Halperin und dem Sänger Andreas Scholl, die ich schon lange persönlich kennen lernen wollte und die mir mit dem heutigen Auftritt nicht nur einen persönlichen Wunsch erfüllt, sondern mit ihrer deutsch-jüdisch-israelischen Musik die Preisverleihung auch thematisch mitgestaltetet haben.
Mein großer Dank gilt auch den Mitgliedern des Kuratoriums für ihre Entscheidung, mir den Hessischen Kulturpreis 2024 zuzuerkennen. Der Preis stärkt mir den Rücken und zugleich gilt er, das ist mir wichtig zu betonen, nicht mir allein, sondern auch den Kolleginnen und Kollegen des Jüdischen Museums, mit denen gemeinsam ich dieses Museum in den letzten Jahren gestalten durfte. Gemeinsam haben wir uns vorgenommen, uns der Hetze und dem Hass entgegen zu stellen, der uns zunehmend begegnet, an den Herausforderungen unserer Zeit zu wachsen und darauf hinzuwirken, jüdische Kultur in Geschichte und Gegenwart in ihren europäischen Dimensionen weithin sicht- und erfahrbar zu machen.
Von Herzen bedanken möchte ich mich auch bei unserem Träger, der Stadt Frankfurt am Main, insbesondere bei der Dezernentin für Kultur und Wissenschaft, Dr. Ina Hartwig, für das Vertrauen, mit dem sie unsere Arbeit begleitet und unterstützt. Mein Dank gilt auch dem Kulturamt der Stadt Frankfurt für seinen administrativen Service. Ein großes Dankeschön gebührt zudem Staatsminister Gremmels und dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur für die institutionelle Förderung unseres Museums. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei der Gesellschaft unserer Freunde und Förderer, deren Vorstandsvorsitzenden Werner d’Inka und dessen Stellvertreterin Doris Jedlicki, die uns in den letzten Jahren viele Spielmöglichkeiten eröffnet und uns fest in der Frankfurter Stadtgesellschaft verankert haben.
Last but not least danke ich meinen Freundinnen und Freunden, die heute in Teilen von weither angereist sind oder sich eigens Zeit genommen haben, um mich zu begleiten. Ich bin sehr glücklich, dass es Euch in meinem Leben gibt. Das gilt auch für meine Familie, besonders für meine Mutter, durch die ich gelernt habe, mutig zu sein, sowie an aller erster Stelle für meinen Mann und meinen Sohn, ohne die ich nicht wäre, die ich – dank Eurer – sein darf.
Bevor der Hessische Ministerpräsident Sie zu einem Empfang einlädt und Sie sich gerne auch weiterhin unsere Ausstellungen ansehen können, darf ich Ihnen noch das letzte Musikstück ankündigen. Es handelt sich um das israelische Wiegenlied „Shir Eres“, das gemeinhin zuhause gesungen wird und mit den Worten endet:
„Es ist nicht nötig, Fragen zu stellen
Es gibt nur Musik und Melodien
Und das Wiegenlied, das wir schon kennen
Versteckt und zugedeckt
Bleibt es am Ende bei uns.“
Vielen Dank fürs Zuhören.
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