Kupferstich mit einer Abbildung der brennenden Judengasse Frankfurt

Wer könnte es ertragen?

Ein Augenzeugenbericht über den großen Brand der Judengasse 1711
Porträt von Sabine Kößling
02. Februar 2020Sabine Kößling

Im Museum Judengasse zeigen wir im Raum "Geschichte in Fragmenten" Bücher und Handschriften. Wie alle Papierobjekte, so sind auch diese gedruckten und handgeschriebenen Quellen sehr empfindlich und müssen regelmäßig ausgetauscht werden. Ende Januar brachten wir daher ein neues Objekt in die Ausstellung. Es wirft ein Schlaglicht auf ein Ereignis, das vor 309 Jahren die Frankfurter Judengasse zerstörte.

Flugblatt über den Brand der Frankfurter Judengasse mit Text und einer Abbildung
Flugblatt über den Brand der Judengasse, Frankfurt am Main, 1711, Kupferstich, Historisches Museum Frankfurt, Foto: Horst Ziegenfusz

Am Abend des 14. Januar 1711 brach in der Judengasse im Haus des Oberrabbiners Naftali Kohen ein Feuer aus und griff von dort rasch auf die benachbarten Häuser über. Das Inferno wütete die ganze Nacht. Am nächsten Morgen waren alle Häuser der Gasse bis auf die Grundmauern niedergebrannt, sogar die steinerne Synagoge war zerstört. 36 Tora-Rollen und ihr Silberschmuck, hunderte Bücher und Manuskripte auf Pergament wurden Opfer der Flammen. Dem Wiederaufbau der Synagoge galt nach dem Brand die größte Sorge, sie konnte schon im Herbst 1711 wieder genutzt werden.

Zeitgenössische Berichte

Ein neues Klaglied über den großen Brand in der heiligen Gemeinde Frankfurt am Main, Lithografie um 1890, vermutlich basierend auf einem Druck 1711, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main.

Die Katastrophe ist in mehreren Berichten überliefert, darunter auch ein Klagelied von Samuel Schotten, Rabbiner der Synagoge im Haus zum Warmen Bad, dessen Fundamente heute im Museum Judengasse zu besichtigen sind. Die meisten Berichte sind allerdings mit zeitlichem Abstand entstanden.

Keine Schilderung wurde so unmittelbar niedergeschrieben wie die folgende. Sie fand sich im Buchdeckel eines Werkes, das 2014 in unsere Sammlung kam. In dem religiösen Werk "Pri Chadasch", gedruckt in Amsterdam 1672, entdecken wir auf den letzten Seiten unter vielen Kritzeleien auch einen handschriftlichen Text in geschwungener Kursive, der von dem großen Brand berichtet.

Der Autor hieß Elieser Lippmann. Er war von seinem Dienstherrn, dem Kaufmann Mordechai Oppenheim aus Weinheim, nach Frankfurt geschickt worden, nachdem dieser von dem großen Feuer der Judengasse gehört hatte. Spürbar ergriffen schildert Lippmann "mit Tränen und zitternden Händen" seine Eindrücke wenige Tage nach der großen Zerstörung.

In der heiligen Gemeinde Frankfurt brach in der Nacht des 10. Tewet in der Judengasse ein Feuer aus wegen unserer großen Sünden. Das Feuer begann um drei Uhr morgens im Haus des gelehrten Oberrabbiners, des ehrenwerten Rabbis Naftali Kohen. Von hier aus verbreitete sich das Feuer in der gesamten Nachbarschaft und kein Haus wurde ausgelassen bis auf eines beim Friedhof.

Am Tag danach verließ ich Weinheim und reiste nach Frankfurt. Kein Vergleich, eine Sache zu hören oder sie mit eigenen Augen zu sehen. Die berühmte Stadt – ihre Krone fiel herab. Tora-Rollen und zahlreiche heilige Bücher verbrannten. Wer könnte es ermessen? Und wer könnte den Anblick der Männer, Frauen und Kinder ertragen, die unbekleidet herumliefen? Ich sah mit eigenen Augen die Wohltaten, die die Nichtjuden an den Juden verübten, sie beherbergten, ihnen halfen. Wir brauchten die Milde der Christen, denn wir haben gesündigt.

Ich flehe Gott an, uns zu beschützen und ganz Israel zu allen Zeiten. Solch ein Unglück möge nie wieder geschehen und schicke uns unseren Messias und baue bald den Tempel wieder auf, dass wir ihn mit unseren eigenen Augen sehen können.
(
Text mit leichten Kürzungen)

"Wegen unserer großen Sünden"

Silberne Medaille zum Brand der Frankfurter Judengasse mit einer bildlichen Darstellung
Medaille auf den Brand der Judengasse, Gotha, 1711, Silber, Historisches Museum Frankfurt, Foto: Horst Ziegenfusz

Der Augenzeugenbericht ist als jüdische zeitgenössische Quelle von großem Wert. Obwohl nur Kaufmannsgehilfe, war Lippmann durchaus gebildet, denn er schreibt nicht auf Jiddisch, der Umgangssprache der Juden und Jüdinnen, sondern auf Hebräisch. Zitate aus der Bibel und dem Talmud durchziehen den Text. Er steht damit in der Tradition der Klagelieder, die an die Zerstörung Jerusalems 586 v.d.Z. erinnern. Der Text endet wie ein Gebet mit einer Anrufung Gottes und dem innigen Wunsch nach dem Kommen des Messias.

Als Ursache des Feuers nennt Lippmann nicht die enge Bebauung der Gasse und die Fachwerkbauweise der Häuser. Vielmehr sei das Feuer ausgebrochen „wegen unserer großen Sünden“. Dies war in der Frühen Neuzeit ein Erklärungsmuster für viele Ereignisse und sie wurde auch 1711 von Juden wie Christen akzeptiert. Die Tatsache, dass der Wind rechtzeitig gedreht hatte und die Häuser außerhalb der Gasse und der benachbarte Pulverturm, das Munitionslager der Stadt, unbeschadet blieben – dies war für Juden wie Christen ein deutliches Zeichen, dass das Feuer eine Strafe Gottes speziell gegen die Juden sei. Dem „großen Judenbrand“ folgte acht Jahre später der "große Christenbrand", der 400 Häuser des christlichen Frankfurts verwüstete. Auch dieses Feuer wurde als Strafe Gottes gewertet.

Um nach dem Brand 1711 einen gottgefälligeren Lebenswandel in der Judengasse zu fördern, verboten die Vorsteher der Gemeinde für die nächsten 14 Jahre weltliche Vergnügungen wie Karten- und Glücksspiele und das Aufführen von Komödien. Die Rabbiner setzten einen Buß- und Fasttag fest, der alljährlich begangen wurde. Rabbiner Schotten schrieb dafür ein Bußgebet, worin es heißt:

Meine Seele ist zerronnen von Traurigkeit, da das Feuer zu brennen angefangen von oben und unten, wegen unserer großen Sünden sind unsre Schulen auch ergriffen worden; ist uns auch unser Lehr-Haus nicht überblieben, es hat uns Schrecken ergriffen wegen der Böswichter, die dein Gesetz verlassen haben.
(zeitgenössische Übersetzung nach J.J. Schudt)

Rabbiner Schotten verfasste außerdem eine ausführliche Kleider- und Luxusordnung, die Prachtentfaltung bei Festen einschränken sollte.

Jüdische Quellen in der Dauerausstellung

Blick ins Museum Judengasse mit den Fundamenten des Hauses zum Warmen Bad
Blick ins Museum Judengasse mit den Fundamenten des Hauses zum Warmen Bad. Hier befand sich eine Synagoge und eine Talmud-Schule, an der Rabbiner Samuel Schotten lehrte und arbeitete.

Der Augenzeugenbericht Elieser Lippmanns über den großen Brand in der Judengasse 1711 ist einer von vielen Originalzeugnissen, die im Museum Judengasse zu sehen sind. Für die Ausstellung im Museum Judengasse haben wir Kurator*innen so viele jüdische Quellen wie möglich ausgewertet. Nicht nur, um die Faktenerzählung tradierter historischer Ereignisse zu überprüfen, sondern vor allem um die geschichtlichen Akteure – leider seltener die Akteurinnen – selbst sprechen zu lassen. Für die Besucher*innen kann so Unmittelbarkeit und Nähe entstehen. Die Geschichte wird aus jüdischer Perspektive erlebbar.

Natürlich stützten wir uns bei der Erarbeitung der Ausstellung auch auf historische Fachliteratur. Diese hatte – gefördert durch die Eröffnung der ersten Dauerausstellung im Museum Judengasse 1992 – in den letzten Jahrzehnten viele Details und auch grundlegend neue Fragestellungen zum Leben in der Judengasse erforscht. Die neueren Arbeiten greifen zurück auf die bedeutenden Arbeiten zur Geschichte der Judengasse, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts publiziert worden sind. Isidor Kracauer, Alexander Dietz und Shlomo Ettlinger sind nur einige Namen derer, die die jahrhundertealte jüdische Geschichte Frankfurt aus den Quellen erforschten. Viele dieser Quellen, wie das bedeutende Archiv der jüdischen Gemeinde, sind im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Mit dem Zweiten Weltkrieg und der Schoa riss auch die Tradition einer Geschichtsschreibung aus jüdischer Perspektive ab, die heute für uns als Jüdische Museen und Gedächtnisinstitutionen wieder raison d‘être ist. Auch die Ausstellung im Museum Judengasse gibt der jüdischen Überlieferung  Raum und vermeidet eine Geschichtsschreibung aus der Mehrheitsperspektive auf die Minderheit.

Sabine Kößling

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