Etwa 11.300 Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken jüdischer Künstler:innen aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert befinden sich in der Kunstsammlung des Jüdischen Museums Frankfurt. Darunter sind auch Werke der aufstrebenden Künstlerin Anna Nero sowie ihrer Mutter Julia Ovrutschki und Großmutter Tatiana Ovrutschki. Anlässlich einer Schenkung von Bildwerken, die die Familie dem Museum überlassen hat, präsentiert Dr. Ana Karaminova, Leiterin der Abteilung Bildung und Vermittlung, ein Bild davon.
„Three is a Crowd“ von Anna Nero

Dieses Kunstwerk zeigt eine abstrakte, surrealistische Komposition mit weichen, pastellfarbenen Farbverläufen und geometrischen Elementen. Zu sehen sind drei Objekte in einem Raum im Hochformat. Es wirkt wie ein futuristisches Stillleben. Die Komposition erinnert an digitale 3D-Renderings, aber einzelne Farbklekse verraten, dass es sich um Malerei handelt. Die präzise Anordnung der Objekte im Raum lässt auf eine gut durchdachte Struktur schließen, die dem Bild zugrunde liegt. Die Objekte scheinen das Raster des Raums weiterzuführen und fügen sich nahtlos darin ein.
Das rechteckige Element links erinnert an ein Fenster. Doch blickt man hindurch, stößt man auf eine weitere Farbfläche. In der Ecke, zwischen dem Fenster und einem Wandvorsprung, ist ein wurmartiges Objekt schräg angelehnt. Die obere Hälfte des Objekts ist hellblau und stößt an die Decke, während der untere Teil in hellrotem Farbton nach unten abknickt und auf einer bühnenartigen Erhöhung endet. Daneben fällt Licht von der Decke und definiert eine Dachschräge, die in der Bildmitte eine fensterartige Lichtöffnung bildet. Darin befindet sich ein kleinerer blauer Körper in Birnenform. Der obere Teil ist leuchtend glatt, während der untere Teil mehrkantig ist. Beide Objekte stehen auf einer Erhöhung, eine Bühne mit einer seitlichen Stufe, auf der ein drittes kleines Objekt liegt. Es erinnert an eine saure Gurke. Vielleicht handelt es sich bei den drei Körpern um Designobjekte, vielleicht auch um Werkzeug oder um Sexspielzeuge? Die Objekte unterscheiden sich nicht nur in Größe und Form, sie haben auch unterschiedliche Oberflächen, die Assoziationen hervorrufen: kalt, warm, eckig, glatt. Dadurch bekommen sie ein Eigenleben - sie scheinen eine unterschiedliche Beziehung zueinander und zum Raum zu haben, die nicht eindeutig ist: schleichen sich an, stoßen sich ab, ziehen sich an, fallen, erheben sich. Vielleicht ist es aber nur eine Einbildung, weil wir als Menschen Objekten Eigenschaften zuschreiben, die Objektwahrnehmung von unseren Empfindungen beeinflusst wird. Das führt im Extremfall bis hin zum Fetischismus.
Von Fetischismus und Kunst

„Wir haben ein körperliches Verhältnis zu Dingen.“, sagte mir Anna Nero in einem Gespräch im Jahr 2024 und führte fort: „Gerade als Künstler:in hat man einen fetischistischen Bezug zur Farbe und zum Material. Malerei ist etwas sehr Dreckiges, aber sie ist gleichzeitig auch etwas sehr Kontrolliertes. In meiner Arbeit geht es sehr viel um Kontrolle und wie man das Material bändigt.“
Wir sprechen über Fetischismus in allen seinen Formen, die über die übliche Deutung des Begriffs als sexuelle Vorlieben oder Anziehung hinausgeht. Anna Nero spricht über die magische Aufladung von Sachen: wenn man etwa Talismanen eine schützende Kraft zuspricht; wenn Kinder ihr Lieblingsspielzeug anhimmeln und daran glauben, dass es eine Seele hat; wenn in Religionen Gegenstände zu Heiligtümern erklärt werden und angebetet oder verboten werden. Die jüdische Künstlerin ist in einem russisch-orthodoxen Kulturraum aufgewachsen, wo Ikonen angebetet werden. „Wann entscheiden wir, ob ein Bild nur Farbe auf Holz ist, oder ob es etwas Transzendentes hat und ein Fenster zu etwas Höherem wird?“ Gleichzeitig gibt es auch diverse Bilderkanone, die vorschreiben, wie man das Göttliche darstellen darf. „Aber, wenn man Bilder verbietet, spricht man Ihnen eine Macht zu.“ Und fragt weiter lächelnd: „Welche:r Künstler:in will nicht, das seine/ihre Bilder nicht angebetet werden?!“
Die Malerei im Fokus

Der Fokus in Anna Neros Bilder liegt auf der Offenlegung der Mittel und Techniken: Öl, Acryl, Spray auf Leinwand. Sie wirken zugleich digital und hyperrealistisch. Neben den zahlreichen illusionistischen Momenten – abstrakte Räume und Gegenstände – gibt es auch immer wieder unkontrollierte Farbklekse, die die Perfektion der Darstellung durchbrechen und darauf hinweisen, dass es sich um Malerei handelt. Im Spannungsfeld zwischen Figuration und Abstraktion bekommen die Objekte eine Art Eigenleben, da sie in Beziehung zu einander dargestellt sind. Es gibt dabei einen humorvollen Unterton, der sich bereits im Titel manifestiert: „Three is a crowd“ – Drei ist einer zu viel. Das bezieht sich auf die drei Objekte im Bild, insbesondere darauf, dass die kleine „Gurke“ von der „Bühne“ zu fallen scheint. Das Paradoxe dabei ist, dass das Dreieck durch seine drei Stützpunkte Stabilität symbolisiert und deswegen in der kunsthistorischen Ikonografie für Verbindung, Harmonie und Gleichgewicht steht.
Drei Künstlerinnen-Generation

Anna Nero stammt aus einer Künstler:innenfamilie: Ihre Großmutter Tatjana Ovrutschki (*1935 in St. Petersburg – 2021 in Frankfurt am Main) war eine anerkannte Künstlerin, die ihr Werk selbst als „Lebenstheater“ bezeichnete. In ihren bühnenhaften Bildern agieren Marionettenfiguren, deren Finger zu lang, Nasen zu groß und Mimik starr sind. Sie thematisieren Gewalt und Unterdrückung mit einer Mischung aus Ironie und Humor, die sich auch im Werk ihrer Enkeltochter, wenn auch in anderer Form, wiederfindet. In den 1990er Jahren zog Tatjana Ovrutschki mit ihrer Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Frankfurt am Main, wo sie ihre künstlerische Arbeit fortsetzte.

Ihre Tochter, Julia Ovrutschki (*1961 in St. Petersburg), widmete sich in ihrer Malerei und später auch in der Arbeit mit Keramik der Auseinandersetzung mit konstruierten Räumen und Landschaften, die sowohl real als auch fantastisch wirken. Sie bewegt sich zwischen figurativem und abstraktem Ausdruck und modelliert Büsten und Portraits wundersamer Wesen, die poetisch wirken und sich in ihrem Formausdruck zwischen Realem und Imaginärem bewegen.

Die Enkelin, Anna Nero (*1988 in Moskau), geht mit ihrer abstrakten Malerei und ihren Skulpturen einen Schritt weiter. Ihr künstlerisches Interesse gilt weder menschlichen Darstellungen noch Naturdarstellungen, sondern Objekten und ihrem Verhältnis zum Raum und zueinander. Neros Werke brechen mit jeglicher Ortsgebundenheit und beschäftigen sich mit anonymen Raumstrukturen. Sie spielen mit Wahrnehmungen und schaffen eine komplexe Bildsprache, die den Betrachtenden gleichermaßen herausfordert und zum Schmunzeln bringt.
Das Jüdische Museum Frankfurt hat eine Schenkung von Werken der drei Künstlerinnen erhalten, und Teile dieser Schenkung sind in der aktuellen Wechselausstellung „Im Angesicht des Todes“ zu sehen. Ihre Kunst spiegelt auf eindrucksvolle Weise die kulturellen, gesellschaftlichen und persönlichen Erfahrungen wider, die die drei Frauen miteinander teilen.
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